Konzertkritik: No Future? Von wegen: die Sex Pistols versetzen Camden in Ekstase

Es war „nur“ eine Dreiviertel-Reunion der Sex Pistols, aber die reichte aus, um viele alte und zahlreiche neue Fans euphorisch zu stimmen. Die Punk-Legenden live mit neuem Sänger Frank Carter.

Kaum eine Nachricht entzweit die Musikwelt wie eine Reunion. Nicht irgendeine Wiedervereinigung, sondern die einer Band, die in ihrer Blütezeit das war, was man eine Institution nennt. Gerade erst sorgte das Oasis-Comeback für Aufsehen. Eben noch belächelte man die Gallagher-Versöhnung, kurz darauf zog man im Wartesaal des ewigen Ticketglücks eine sechsstellige Kundennummer. 

Hier die Jubelnden, dort die Spötter, wenig später regte sich allerorten Unmut über das unsägliche „Dynamic Pricing“ mit Mondpreisen wider jede Vernunft. Im Sommer 2025 wird der Ärger verraucht sein, dann schütteln sich Großbritannien und die angeschlossenen Funkhäuser zu „Wonderwall“ und „Live Forever“ ganz dynamisch das überteuerte Bier schaumig.

Von Johnny Rotten keine Spur

Die Geschichte der Sex Pistols ist eine etwas andere, dabei nicht weniger erstaunlich. Vor einigen Monaten machte die Meldung die Runde, dass sich das berühmt-berüchtigste Ensemble der Punkhistorie wieder zusammentun würde. Nicht in Originalbesetzung, sondern mit Bassist Glen Matlock, Gitarrist Steve Jones und Schlagzeuger Paul Cook, verstärkt durch Frank Carter, einst Sänger der UK-Hardcore-Punks Gallows, seit Jahren solo mit den Rattlesnakes aktiv. 

STERN PAID 32_23 Johnny Rotten    6.45

Von Johnny Rotten alias John Lydon keine Spur. 2008 war die Band zuletzt gemeinsam aufgetreten. Die letzten Jahre waren vornehmlich von Grabenkämpfen geprägt, im Mittelpunkt Formalien wie Songrechte, alte Narben und die Disney+-Serie „Pistol“ von Danny Boyle („Trainspotting“), die vor allem Lydon überhaupt nicht goutierte.

Im Sommer nun ein weiteres Comeback, es ging darum, die legendäre Live-Venue Bush Hall vor der Insolvenz zu retten. Im Stadtteil Shepherd’s Bush waren Cook und Jones aufgewachsen, hier nun wollten sie ihrer alten Hood unter die Arme greifen. 400 Tickets pro Abend, drei Shows – die Konzerte waren ausverkauft, schneller als man „Punk’s Not Dead“ sagen konnte. 

Frank Carter als neuer Frontmann der Sex Pistols – ein Geniestreich

Im Fokus bei dieser Reunion natürlich Sänger Frank Carter. Auf der Suche nach einem Frontmann hatte Matlocks Sohn seinem Vater diese Idee gesteckt. Sie sollte sich als Geniestreich erweisen. Die Livekritiken gerieten überschwänglich, glücklich, wer dabei gewesen sein konnte. 

Auch der Band schien es zu gefallen, das war kaum zu übersehen. Kurz darauf kündigten die Sex Pistols eine UK-Tour an, ein halbes Dutzend Gigs, mit dem Schlusspunkt in London, im O2 Forum in Kentish Town, dem früheren Town & Country Club im Norden Camdens.

2300 Zuschauer fasst die Halle, sie ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Angegraute Punks, Lederjacken voller Badges, auf dem Rücken die Namen der Granden von 1977, The Damned, The Clash und natürlich Sex Pistols. Grüne Iros, Streifenshirts, Nietengürtel bestimmen das Bild, und vor allem: die schiere Vorfreude darauf, die sagenumwobenste Formation der Generation „No Future“ einmal livehaftig zu sehen, wobei angesichts der Faltentiefe zu vermuten ist, dass einige der Anwesenden damals schon dabei waren.

Los geht’s mit „Holidays in the Sun“

Gegen 21.30 Uhr löst sich die Anspannung endlich. Matlock, Jones, Cook und Carter betreten die Bühne. Kurz darauf ertönt das legendäre Kickdrum-Intro von „Holidays in the Sun“, das Steve Jones schließlich mit seinem Leadriff Richtung Rhythmus katapultiert. Es ist der Auftakt zu 80 historischen Minuten, an deren Ende diese 2300 Menschen grinsend, mit leuchtenden Augen, wieder hinaus ins regnerische London treten.

Bis dahin gibt es alle Songs des einzigen regulären Pistols-Albums zu hören, „Never Mind the Bollocks – Here’s the Sex Pistols““in seiner ganzen Pracht. Das ikonische Gelb-Schwarz-Pink, von Designer Jamie Reid einst für das Cover ersonnen, ziert das Backdrop. 

Sex-Pistols-Sänger pflegt seine Frau

Zwei riesige Lautsprecher in Flammen, darüber die Worte „Nowhere“ und „Boredom“, ein Zitat an die Promoposter zur Single „Pretty Vacant“. Boredom, Langeweile, kaum etwas ließe sich hier wohl weniger assoziieren, im Gegenteil, die musikalische Geschichtsstunde erweist sich als Parforceritt, der in seiner Souveränität dann doch überrascht.

Ein Klassiker nach dem anderen

Ein Klassiker folgt auf den nächsten. „Seventeen“, „New York“, „Pretty Vacant“, bei dem sich Matlock einst von Abba inspirieren ließ, das bitterböse „Bodies“, gefolgt von „Silly Thing“, einem Song aus dem „The Great Rock’n’Roll Swindle“-Soundtrack. Drummer Cook hält den Laden so kompakt wie eh und je zusammen, Matlock als „Elder Statesman“ mit Halstuch und Goatie, Gitarrist Steve Jones im Union Jack“-T-Shirt, mit jenen Riffs, die wohl bis ans Ende ihrer Zeit ihresgleichen suchen werden  – und Frank Carter, der binnen weniger Shows seinen Platz gefunden hat. 

Waren die Konzerte in der Bush Hall anfangs noch von einem ungläubigen Erstaunen geprägt, im Sinne von „How the Fuck bin ich denn plötzlich Sänger der Sex Pistols geworden?“, hat ein halbes Dutzend Shows ausgereicht, um das Ruder endgültig in der Hand zu halten. 

Carter ist inzwischen ein echter Sex Pistol

Eine glückliche Fügung, dass der Mann mit den roten Haaren, seinen 40 Jahren zum Trotz immer noch äußerst jungenhaft, von fern ans Original, an Johnny Rotten, erinnnert. Sein Trumpf ist, dass er sich nie in die Nähe des Imitierens begibt, Carter bleibt immer Carter, dabei jedoch unübersehbar mitterweile ein echter Sex Pistol.

Mit ihnen begann die Punk-Revolution: die Sex Pistols 1977 in Originalbesetzung: Sänger Johnny Rotten, Bassist Sid Vicious, Gitarrist Steve Jones und Drummer Paul Cook (v.l.)
© Imago/Bridgeman Images

Auch in der zweiten Hälfte des Sets ist Feuer unter allen Kesseln. Der Aufgalopp von „Liar“, „God Save the Queen“, das mittlerweile ein Charles-Update erfährt und den „King“ im vielstimmigen Chorus besingt. Der Groover „Submission“ nimmt großartig den Fuß vom Gas. „Satellite“ kommt wie mit dem Skalpell aus einem Holzblock geschnitzt, die alleinstehenden Riffs ein Genuss. 

Das Stooges-Cover „No Fun“ folgt aufs Original „No Feelings“, am Ende des Sets dann „Problems“, vom kompletten Forum mitgeschmettert, und binnen einer Nanosekunde ins wuchtige „E.M.I“ übergehend, der Schlusspunkt eines durchweg euphorisierenden Gigs. 

„That was sensational, mate, wasn’t it?“

Zwei Songs gibt es als Zugabe. „My Way“, von Sid Vicious einst gesungen, hier nun von Carter zwischen Ironie und Emotion perfekt in der Balance gehalten, gefolgt von „Anarchy in the UK“, das auch in Zeiten von Post-Brexit und Post-Boris Johnson nichts von seiner beißenden Schärfe verloren hat.

Dann ist es vorbei. Ein letztes Nippen am Pint, der Strom an Menschen gleitet nach draußen. Thomas aus London, Anfang 60, hat glühende Wangen, wie soviele hier: „That was sensational, mate, wasn’t it?“, entfährt es ihm. In der Tat, das war es, man kann es nicht anders sagen. 

Eine weitere Erkenntnis an diesem Abend, dass die Sex Pistols auch heute noch mehr sind als „nur“ eine Band. Sie sind größer als die Summe ihrer Teile, ikonisch wie Warhols Suppendose oder die Banane, die Mona Lisa oder Stonehenge – die Sex Pistols sind im Kern Pop-Art der ganz besonders zeitresistenten Art.

Punk’s not dead? Ganz sicher

Vor der Venue machen Fans Selfies zusammen mit Stuart Pearce, einst knochenharter Verteidiger von unter anderem Nottingham Forest und 78-facher englischer Nationalspieler. Kürzlich erst war Pearce in einem Musikvideo der Stranglers zu sehen, 1976/77 hatte ihn das Punkvirus ergriffen und nicht wieder losgelassen. „Ich habe ‚Never Mind the Bollocks‘ so oft gehört“, sagte Pearce einmal. „Es ist mittlerweile Teil meiner DNA.“ 

Würde man an diesem Abend Gentests durchführen, das Ergebnis würde bei vielen wohl ähnlich aussehen. Punk’s Not Dead? Ganz sicher. Er mag in die Jahre gekommen sein, aber sein Herz wummert immer noch. Dieser Abend in London hat es gezeigt. Wie es mit den Sex Pistols und Frank Carter nun weitergeht, das ist die spannende Frage. No Future? Bitte nicht.