Verschickung: Landesarchiv arbeitet Leid von Kurkindern auf
Ein Stück dunkle Nachkriegsgeschichte: Millionen Kinder wurden über Jahrzehnte zur Kur geschickt. Viele erlebten Schläge und seelische Grausamkeiten. Mehr und mehr geraten die Missstände ans Licht.

Ein Stück dunkle Nachkriegsgeschichte: Millionen Kinder wurden über Jahrzehnte zur Kur geschickt. Viele erlebten Schläge und seelische Grausamkeiten. Mehr und mehr geraten die Missstände ans Licht.

Seelisches und körperliches Leid statt Erholung: Rund eine Million Menschen in Baden-Württemberg sind in ihrer Kindheit nach Schätzung von Forschern in sogenannte Erholungs- oder Kurheime geschickt worden – mehr als jedes zweite dieser sogenannten Verschickungskinder erfuhr dabei Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch, wie eine Projektgruppe des Landesarchivs nun berichtet. Die Forscher arbeiteten zweieinhalb Jahre lang die sogenannte Kinderverschickung im Südwesten vom Ende der 1940er Jahre bis in die 1990 Jahre gemeinsam mit rund 100 Betroffenen auf.

Berichte von Missbrauch und Isolation

Betroffene berichteten von Schlägen, Essenszwang, Kollektivstrafen, von sexualisierter Gewalt und der unerlaubten Gabe von Medikamenten. Telefongespräche nach Hause waren demnach unerwünscht, Briefe wurden zensiert. Viele Kinder kehrten traumatisiert nach Hause zurück. „Die Heime waren chronisch unterfinanziert, die staatliche Aufsicht nur spärlich existent“, sagte Projektleiter Christian Keitel bei der Vorstellung der Ergebnisse in Stuttgart. „Die Kinder hatten schreckliche Angst, viele dachten, sie kommen gar nicht mehr zurück nach Hause.“ 

Erst in den vergangenen Jahren rückten die Missstände ins Blickfeld der Öffentlichkeit. „Die Kinder haben damals nicht den Raum bekommen, um darüber zu sprechen – sie wurden nicht ernst genommen wie heute“, sagte die Projektmitarbeiterin Corinna Keunecke.

Die Experten erstellten ein Verzeichnis der Heime im Südwesten. Sie zählten bislang rund 470 Einrichtungen für den Zeitraum zwischen 1949 und 1980, es kämen aber immer noch welche hinzu. Ein Großteil der Einrichtungen befand sich demnach im Schwarzwald, allein im Schwarzwald-Baar-Kreis gab es demnach 56 Heime. Zu dem Thema ist bis zum 6. Dezember auch eine Ausstellung im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart zu sehen.

Experten schätzen die Zahl der Verschickungskinder bundesweit auf 8 bis 12 Millionen.