Leonore U. will auf keinen Fall einen Fehler machen. Ihr Perfektionismus setzt sie unter großen Druck. Julia Peirano weiß einen Weg, dieser Belastung zu entkommen.
Liebe Frau Peirano,
ich bin 44, habe Erziehungswissenschaften studiert und eine 9-jährige Tochter. Vom Vater der Tochter bin ich getrennt.
Seit 10 Jahren gebe ich als Selbstständige für einen Träger Workshops in der Erwachsenenbildung. Und obwohl gerade meine Kurse immer gut ausgebucht sind und sehr gute Rückmeldungen bekommen, habe ich vor jedem Kurs wieder eine Heidenangst, es nicht gut genug zu machen. Oder ich komme mir vor wie eine Betrügerin, die nur so tut, als könnte ich etwas.
Und natürlich habe ich eine riesige Angst davor, Fehler zu machen, auch wenn es nur kleine und banale Fehler sind wie z.B. einen Rechtschreibfehler in einer E-Mail an einen Teilnehmer.
Ich habe Schlafstörungen vor jedem Workshop, auch wenn ich ihn schon mehrmals gehalten habe. Und ich bereite mich viel zu viel vor. Auch wenn ich das Skript einfach aus der Schublade ziehen könnte, weil ich den Kurs schon kenne, sitze ich ungefähr 10 Stunden da und bereite mich auf mögliche Fragen vor, hinterfrage mein Fachwissen, bringe mich auf den neuesten Stand und korrigiere die kleinsten Formfehler.
Das stresst mich sehr. Das Gleiche passiert, wenn ich eine unbedeutende Aufgabe habe. Als ich für eine ausscheidende Spielerin aus meiner Handballmannschaft ein Abschiedsgeschenk gebastelt habe, habe ich ein ganzes Wochenende an einer Collage gearbeitet, bis sie perfekt war.
Ich weiß nicht, was ich gegen diese Mischung aus Perfektionismus und meine Selbstzweifel tun kann.
Haben Sie einen Rat für mich?
Viele Grüße und danke
Leonore U.
Liebe Leonore U.,
das klingt sehr anstrengend, was Sie durchmachen! Denn es ist nahezu unmöglich, keine Fehler zu machen, und wenn wir das anstreben, dann kostet die mehrfache Kontrolle zur Fehlervermeidung unglaublich viel Kraft. Und natürlich sind wir die ganze Zeit angespannt und nervös, wenn wir uns einreden, dass es eine Katastrophe wäre, wenn wir auch nur den kleinsten Fehler machen.
Wenn jemand allerdings Herzchirurg oder Pilot ist, sollte er oder sie versuchen, zumindest bei der Arbeit keine Fehler zu machen, weil das Leben kosten kann. Für alle anderen aber gilt es, dass wir alle de facto ab und zu Fehler machen. Die meisten lassen sich wieder ausbügeln und geben uns dann das Gefühl: Siehst du, so schlimm war das doch gar nicht.
Und so ist die Erfahrung, dass man mit Fehlern leben kann und sie eben doch keine Katastrophe verursachen, eine positive.
In meinen Blog-Beiträgen waren auch immer mal wieder Rechtschreibfehler oder sogar fehlende Worte, und glauben Sie, dass ich deswegen einen Shitstorm von meinen empörten Lesern bekommen habe? Die Antwort: Es ist genau nichts passiert.
Auch als ich vor ein paar Wochen einen Termin mit einem Patienten nicht in meinem Kalender eingetragen hatte und er 40 Minuten gefahren war und vergeblich vor meiner Tür stand, ist die Welt nicht untergegangen. Es war mir peinlich und es tat mir sehr leid für seine vergeudete Zeit, aber ich habe mich aufrichtig entschuldigt und daran geglaubt, dass er a) ein sehr netter Mensch ist und b) unser gutes Verhältnis so etwas auch aushalten kann, wenn es eine Ausnahme ist. Und genau so ist es auch gekommen. Vielen Dank, Herr O. 🙂
Perfektionismus belastet
Ich vermute, dass die Wurzeln für Ihren Perfektionismus und Ihre starke Selbstkritik in Ihrer Vergangenheit liegen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, woher das kommt? Waren Ihre Eltern oder einer Ihrer Elternteile überkritisch, hatten extrem hohe Standards und man konnte ihnen nichts recht machen?
Oder gab es in Ihnen den Wunsch, sich Anerkennung und Liebe über gute Leistungen zu holen, um z.B. gegenüber einem Bruder oder einer Schwester aufzutrumpfen?
Oder sind Sie als Kind durch eine harte Schule gegangen, z.B. in einem Leistungssport mit einem überambitionierten Trainer?
Eine Patientin erzählte mir, dass sie als 6-jähriges Kind ein Skirennen gemacht hat und ihre Mutter selbst gerne Profisportlerin geworden wäre und diesen Wunsch nun auf sie projiziert hatte. Die Mutter betrachtete das Skirennen für 6-jährige Kinder so, als ginge es darum, Olympiagold zu gewinnen und war sehr enttäuscht und wütend, als ihre Tochter stürzte und verlor.
Solche Erfahrungen können sich einbrennen. Kinder entwickeln aus den Erfahrungen, die sie mit ihren Eltern machen, Glaubenssätze. „Wenn ich nicht die Beste bin, bin ich eine Enttäuschung.“ Oder: „Ich darf keine Fehler machen, weil ich dann nicht mehr geliebt/ beschimpft/ beleidigt werde“. „Nur das Beste ist gut genug.“
Ich bin sicher, dass diese Glaubenssätze in Ihnen weiter wirken und sich zu einer Art innerem Kritiker oder innerem Antreiber ausgebildet haben. Es ist ein wichtiger Schritt, sich diese inneren Stimmen bewusst zu machen, indem Sie sie aufschreiben.
Hier ist ein sehr gutes Buch dazu: Jochen Peichl „Rote Karte für den inneren Kritiker. Wie aus dem ewigen Miesmacher ein Verbündeter wird„
Manchmal lasse ich mir diese Glaubenssätze genau erzählen und übernehme dann die Rolle des inneren Kritikers. Das heißt, ich gehe mit meinem Patienten/meiner Patientin spazieren und werfe ihm/ihr alles an den Kopf, was er/sie selbst negatives über sich denkt. „Du brauchst es gar nicht erst versuchen, du scheiterst doch sowieso, Christiane. Und das liegt einfach daran, dass du dumm bist. Die anderen merken das, sie lassen sich das nur nicht anmerken.“
Die Patientin/ der Patient kann dann diese Sätze auf sich wirken lassen und ehrlich gesagt wünsche ich mir, dass sie mich in der Rolle des Kritikers anschreien, dass ich die Klappe halten und abzischen soll. Das tun sie in der Regel aber nicht, sondern sie lassen diese ewige Selbstniedermachung über sich ergehen und sagen manchmal sogar: „Du hast ja Recht.“ Das spricht dafür, dass sie es gewohnt sind, sich genau diese negativen Sätze immer wieder selbst vorzubeten und damit die inneren Glaubenssätze zu wiederholen.
Genau deswegen fühlen sie sich weiterhin schlecht, dumm und erfolglos, obwohl ja massive Erfolge gegen diese Annahme sprechen. Wenn ich zum Beispiel ein Seminar über Erwachsenenbildung halten würde, würde ich kolossal scheitern, weil ich mich mit der Materie nicht auskenne und es nicht studiert habe, mich nicht vorbereitet habe und keine Erfahrung habe wie Sie. Allein die Tatsache, dass Sie seit Jahren erfolgreich Seminare und Workshops geben, spricht ja für Ihren Erfolg. Sie könnten sich auch mal einen Brief schreiben, in dem sie alle Ihre „harten“ Erfolge wie gute Zeugnisse, Rückmeldungen etc. auflisten und ihn per Post an sich schicken. Und zwar ohne das Wort „eigentlich“. Denn was glauben Sie, wie man sich fühlt, wenn der Lehrer sagt: „Eigentlich bist du ganz intelligent“.
Aber der innere Kritiker sagt hartnäckig: „Nein, nein, nein, ich lasse diese Erfolge nicht gelten“. Was für ein Sturkopf! Überlegen Sie doch mal, was er davon hat, darauf zu beharren. Das ist übrigens eine sehr interessante Frage …
Der nächste Schritt, nachdem man sich den inneren Kritiker bewusst gemacht hat, ist, ihm zu antworten. Entweder ihm vorzuhalten, was man alles erreicht hat. Oder ihn zu behandeln wie einen meckerigen alten Wicht: Jaja, du schon wieder, du musst ja immer nur meckern. Oder meine Patienten und ich komponieren manchmal auch ein lächerliches Lied und singen es dem inneren Kritiker im Kanon vor, weil man ihm so den Wind aus den Segeln nimmt. Auf jeden Fall ist es sehr, sehr wichtig, hart gegen den inneren Kritiker anzugehen und am Ball zu bleiben. Das ist nicht mit einer einmaligen Antwort getan!
Ein persönliches Beispiel: Ich wollte immer gut Geige spielen, habe aber erst mit 15 angefangen und keine außergewöhnliche Begabung. Außerdem ist Geige ein sehr anspruchsvolles Instrument und klingt, anders als eine Gitarre oder ein Klavier, ganz grausam, wenn man übt und nur den geringsten Fehler macht. Also insgesamt ein sehr hohes Peinlichkeitspotenzial.
Seien wir mal ehrlich: Ich habe jahrelang Menschen bewundert, die schön Geige spielen konnten und ich habe mich abgrundtief geschämt dafür, wie ich selbst gespielt habe.
Vor einigen Jahren kam die Stunde der Wahrheit für mich. Ich habe mich gefragt, ob ich auf dem Niveau weiterspielen möchte, ganz aufhören will oder mich darum bemühe, mich mit der Geige anzufreunden. Ich habe mich für das Anfreunden entschieden.
Glauben Sie, dass es mir geholfen hätte, jeden Tag Videos von meinen falschen Tönen zu sehen und zu hören und mir die Passagen immer wieder anzuhören, die ich nicht hinbekommen habe? Wahrscheinlich hätte ich außer dem Wunsch, im Boden versinken und meine Geige in die Ecke pfeffern zu wollen, nicht viel gewonnen.
Das ist übrigens genau das, was Menschen machen, die Angst haben, Fehler zu machen: Sie werfen sich alte, banale Fehler in einer Art Wiederholungsschleife wieder und wieder vor oder sie fantasieren Fehler, die sie möglicherweise machen könnten und spielen die in einer Endlosschleife.
Ich habe mich entschieden, mich nicht mehr auf die Vergangenheit und das „Warum“ zu fokussieren. Denn die Frage, WARUM ich so schlecht spiele, führt ja nur zu unangenehmen oder selbstmitleidigen Antworten: Weil ich unbegabt bin. Weil ich dumm bin. Weil ich spät angefangen habe (kann man auch nicht mehr ändern) etc.
Ich habe mich stattdessen auf das „Wie“ konzentriert und dieses Wie auf ganz kleine Schritte heruntergebrochen. Wie schaffe ich es, gerade Bogenstriche zu machen. Aha, ich brauche einen Spiegel. Es hat mich übrigens entlastet, dass alle Geiger:innen, auch die Profis, vor dem Spiegel üben. Also bin ich wie alle anderen! Wie schaffe ich es, im richtigen Rhythmus zu spielen: Aha, ich muss ganz langsam mit einem Metronom üben. Und auch da die ganz große Erkenntnis: Auch das machen Profimusiker täglich.
Genau das hat geholfen: nur noch zu schauen, wie ich in kleinen Schritten besser werde, anstatt in der quietschigen und kratzigen Vergangenheit herumzuwühlen.
Eben das würde ich Ihnen auch raten: Wie schaffe ich es, an mich zu glauben und mich nur noch 30 Minuten auf ein Seminar vorzubereiten, das ich kenne. Wahrscheinlich müssten Sie es aushalten, sich etwas schlecht zu fühlen. Wie sage ich mir vor dem Seminar etwas Aufbauendes und Konstruktives und nach dem Seminar etwas Wertschätzendes?
Zudem rate ich Ihnen, immer mal wieder bewusst Fehler zu machen, um zu lernen, dass die Welt nicht untergeht. Gehen Sie doch mal mit einer dreckigen Hose aus dem Haus oder mit zwei verschiedenen Schuhen. Machen Sie Tippfehler in E-Mails und steigern Sie das. Ihrem Klempner oder Stromanbieter wird es wahrscheinlich egal sein, dann bauen Sie Tippfehler an Freunde und schließlich auch mal an Kursteilnehmer ein.
Arbeiten Sie an Ihren inneren Glaubenssätzen und sagen Sie sich, dass Sie auch liebenswert sind, wenn Sie Fehler machen. Dass es ok ist, Fehler zu machen und dass es uns allen passiert.
Ich habe noch einen Buchtipp, der bestimmt hilfreich ist, Martina Fischer-Klepsch: „Soziale Phobie – die heimliche Angst. Selbsthilfeprogramm mit Übungen aus der Praxis„
Alles Gute für Sie und bieten Sie Ihrem inneren Kritiker mal ordentlich Paroli!
Julia Peirano