Florentina Holzinger: Eine Oper zum Kotzen: Das ist die Frau hinter dem Skandal
Florentina Holzinger bringt das Publikum zum Kotzen, ihre Oper sorgte für Notarzt-Einsätze. Aber ist ihre Kunst auch wichtig?

Florentina Holzinger bringt das Publikum zum Kotzen, ihre Oper sorgte für Notarzt-Einsätze. Aber ist ihre Kunst auch wichtig?

Solche Schlagzeilen kannte die deutsche Opernwelt lange nicht: “ Übelkeit im Publikum“, „Oper sorgt für Notarzteinsätze“, „Sex-Szenen schocken Opern-Publikum“ und: „In der Oper gewesen, gekotzt“.  Was ist geschehen? 

Die österreichische Künstlerin Florentina Holzinger, 38, ist seit Jahren mit einer Performance-Kunst erfolgreich, die in ihrem Wesen an das Provokationstheater der Wiener Aktionisten vor 50 Jahren erinnert. Das Prinzip von den Kunst-Patriarchen Hermann Nitsch, Otto Mühl oder Günther Brus, bloß queerer, feministischer und in ihrer Tanzperformance deutlich professioneller inszeniert. „Grenzen auszuloten und lustvoll zu überschreiten war von jeher eine zentrale Aufgabe der Kunst“, sagt der Stuttgarter Intendant Viktor Schoner. Welche neuen Erlenntnisse daraus im 21. Jahrhundert entstehen, bleibt er schuldig.

Florentina Holzinger wurde 1986 in Wien geboren, gilt als eine der wichtigsten Künstlerinnen ihres Genres, der britische „Guardian“ kürte sie zu „Europe’s hottest Director“. Das hat seinen Grund: Auch wenn sich die darstellenden Künste als aufklärerisch und gesellschaftlich progressiv begreifen, liegen sie in ihren eigenen Strukturen oft weit zurück. Der männliche Geniekult des Theater- und Opernbetriebes wurde viel zu spät als strukturelles Problem erkannt, die diversen Me-too-Affären der vergangenen Jahre in dieser Branche künden davon. 

Emanzipation aller Gretchens, Nymphen und Nixen 

Holzinger geht dagegen mit der Brechstange vor. Sie befreit die Gretchens und Ophelias der Theatergeschichte aus ihren passiven Rollen, holt die Musen, Nymphen und Nixen aus ihrer Funktion, bloß zu locken und zu gefallen. Sie ist die heroische Rächerin aller Liebchen und Beliebigen. Ihre Mittel, den weiblichen Körper von aller zugewiesenen und oktroyierten Anmut zu befreien, sind zuweilen drastisch und brutal. Da wird live tätowiert und gepierct und sogar real versehrt. Schwertschluckerinnen, Stangentänzerinnen, japanische Bondage-Künstlerinnen und Frauen, die an ihren zu Pferdeschwänzen geflochtenen Haaren hängen, gehören zu ihrem Besteck. In „A Divine Comedy“ aus dem Jahr 2021 an der Berliner Volksbühne führte eine Darstellerin einen spektakulären Orgasmus auf, während parallel ein Gemälde mit Blut und frischen Exkrementen zusammengepantscht wurde.

Florentina Holzinger versus Vatikan

In Anspielung auf die christliche Passionsgeschichte ließ Holzinger bereits bei den Wiener Festwochen vor drei Monaten aus dem Körper einer Darstellerin ein Stück Haut schneiden, Blut floss und die Orchestermeisterin fiel in Ohnmacht. Die blutige Operation auf offener Bühne wurde auf Leinwände an der Seite der Bühne projiziert, und schon bei dieser Premiere ihrer ersten Oper „Sancta“ musste die Aufführung unterbrochen werden. 

Bereits bei jenen Aufführungen in Wien wurde das heftige Bühnenspektakel mit teils expliziten Sexszenen mit gemischten Gefühlen aufgenommen, Zuschauer fragten sich, inwieweit die provozierten Reaktionen Teil der Gesamtinszenierung sein könnten.

Während zurzeit theologische Laien, darunter viele Frauen, mit Papst Franziskus I. im Vatikan darüber beraten, wie sich die Kirche zeitgemäßer und diverser gestalten könnte, greift Holzinger auf alte Bilder des Katholizismus zurück. Eine nackte Frau schwingt als menschlicher Klöppel in einer großen Kirchenglocke. Nackte Nonnen masturbieren. Die Möglichkeit eines zölibatären Daseins als Ordensfrau im Sinne weiblicher Selbstbestimmung steht nicht zur Debatte.

Kunstfreiheit braucht keinen guten Geschmack

Was Holzinger da aufführt, ist klar von der Kunstfreiheit gedeckt, darüber sollte keine Debatte bestehen. Wiener Festwochen, Mecklenburgisches Staatstheater oder Stuttgarter Staatsoper, wo „Sancta“ bislang aufgeführt wurde, sind ihrer Sorgfaltspflicht gegenüber dem Publikum nachgekommen und haben vorab über die bevorstehenden, möglicherweise psychologisch herausfordernden Zumutungen gewarnt. 

Wie bestellt haben hochrangige Geistliche Österreichs die „respektlose Persiflage auf die Heilige Messe“ (Innsbrucks Bischof Hermann Glettler) moniert, sich darüber beschwert, dass „religiöse Gefühle und Überzeugungen von Gläubigen empfindlich verletzt“ würden (Salzburgs Erzbischof Franz Lackner). Bei den Aufführungen in Schwerin gab es mangels katholischer Persönlichkeiten keine Proteste dieser Art, die nackten Frauen, die sich auf einem Neonkreuz gegenseitig befriedigen, regten das Publikum deutlich weniger auf – mit Ausnahme eines Besuchers, der einem NDR-Reporter zu Protokoll gab, ihm habe „der nötige Tiefgang“ gefehlt.

Wiener Aktionismus in queerfeministisch 

Während der 2022 verstorbene Aktionskünstler Hermann Nitsch, der 1969 in seiner Performance „Maria Empfängnis“ Kreuzigungsszenen mit sexuellen Darstellungen vereinte, noch einer breiten Front an katholischer Erregung gegenüberstand und zeitweise sogar das Land verlassen musste, wirkt Holzingers Provokationsspektakel wie eine fahle Farce dessen. Auch wenn der Konservativismus und rechte Politik wieder im Erstarken sind, fehlt ihr der richtige Adressat.

Florentina Holzingers Vorfahren: Der Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch provozierte bereits in den Sechzigern mit ähnlichen Motiven
© Viennareport

Vielmehr stellt sich die Frage, ob sich Holzinger mit ihrer brachialen Ästhetik möglicherweise jener Mittel bedient, gegen die sie doch angehen will. Teile des Stuttgarter Ensembles sollen sich überrumpelt und missbraucht fühlen. Niemand hat sie gefragt, ob sie mit ihrem künstlerischen Beitrag Teil dieser Performance sein möchten. Holzinger ist insofern Teil und sogar Spitze einer Hierarchie, die sie zu bekämpfen vorgibt. Patriarchalische Strukturen werden nicht besser, indem sie von Frauen ausgeübt werden.