Das Messer-Attentat von Solingen ist politisch längst nicht abgearbeitet. Die Opposition sieht erhebliche Aufklärungsdefizite – auch bei Fluchtministerin Paul. Die bemängelt zu späte Informationen.
Nordrhein-Westfalens Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) wehrt sich weiter gegen Vorwürfe, nach dem tödlichen Terroranschlag von Solingen vor zwei Monaten zu spät reagiert und nicht umfassend informiert zu haben. Im Integrationsausschuss des Düsseldorfer Landtags bemängelte sie, erst spät von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) über den mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlag des abgelehnten Asylbewerbers Issa Al H. informiert worden zu sein.
Am 23. August, einem Freitagabend, soll der Syrer, dessen Abschiebung im Juni 2023 gescheitert war, in Solingen drei Menschen mit einem Messer getötet haben. Reul habe selbst eingeräumt, „dass es politisch vielleicht klüger gewesen wäre, mich noch am Samstagabend anzurufen“, sagte Paul. „Dem kann ich mich anschließen.“
Weil sie erst im Laufe des Sonntags informiert worden sei, habe sie sich nicht sofort einschalten können. „Für die Fahndung und die Festnahme – auf der zu diesem frühen Zeitpunkt nach der Tat die volle Priorität zum Schutze der öffentlichen Sicherheit lag – hätte dies gleich wohl nichts geändert“, unterstrich die Ministerin.
Opposition kritisiert mangelhafte Informationspolitik
Es sei aber bedauerlich, dass deswegen nun seit Wochen politische Debatten über Meldeketten zwischen den Ministerien geführt würden anstatt über Lösungen und Schlussfolgerungen aus dem Attentat zu sprechen. Die Vizevorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Lisa-Kristin Kapteinat, hielt in der von ihrer Fraktion beantragten Aktuellen Viertelstunde dagegen, der Aufklärungsbedarf resultiere aus der mangelhaften Informationspolitik der Ministerin.
Paul ist politisch unter Druck geraten, weil sie sich erst vier Tage nach dem Anschlag erstmals öffentlich zur asylrechtlichen Vorgeschichte des Terrorverdächtigen geäußert hatte. Am Tat-Wochenende war sie auf Dienstreise in Frankreich.
FDP provoziert: „Fühlen Sie sich nicht verschaukelt?“
Die FDP versuchte, zwischen den Koalitionspartnern zu zündeln. CDU und Grüne sprächen bei der politischen Aufarbeitung nicht mehr mit einer Stimme, meinte der stellvertretende FDP-Fraktionschef Marc Lürbke. Reul habe bewusst entschieden: „Josefine Paul lasst mal besser raus in diesem Moment. Das lösen wir selbst.“
Dabei sei das ganze Land nach dem blutigen Terroranschlag sensibilisiert gewesen. „Da brannte doch überall in Nordrhein-Westfalen die Luft.“ So stelle sich die Frage an die für Flucht und Abschiebung zuständige Fachministerin: „Fühlen Sie sich da nicht ein wenig verschaukelt?“
Die Koalitionsfraktionen wiesen die Anwürfe zurück. Die Grünen-Abgeordnete Gönül Eğlence sprach von einer beschämenden „Show“ der Opposition nach dem Motto: „Wirf mal mit Dreck und gucke, was hängen bleibt.“ Der CDU-Abgeordnete Peter Blumenrath unterstrich, alles, was unmittelbar nach der Tat akut getan werden musste, habe funktioniert. Sein Fraktionskollege Fabian Schrumpf warf der Opposition vor, sie wolle das Thema „am Köcheln halten“, obwohl es doch bald ohnehin ausführlich in einem Untersuchungsausschuss behandelt werde.
Regierungspräsidenten machen Front gegen Paul-Erlass
SPD und FDP hielten wiederum Paul vor, unangenehme Informationen zurückzuhalten. Dies gelte auch für die überparteiliche Kritik aller fünf Regierungspräsidenten an einem Erlass der Ministerin zur Steigerung der Erfolgsquote bei den sogenannten Dublin-Überstellungen. Dabei geht es um die Zuständigkeit der EU-Staaten für Asylverfahren.
Auf elf Seiten haben die Regierungspräsidenten in einem schon im September versandten Schreiben an Pauls Ministerium, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, ausführlich auseinandergenommen, was an Pauls Erlass vom 30. August in der Praxis nicht funktioniert. Über diese fundamentale Kritik der staatlichen Vollzugsbehörden habe die Ministerin in keiner Ausschusssitzung ein Wort erwähnt, kritisierte Kapteinat.
Ministerin sieht keinen Grund zur Aufregung
Paul sprach von einem offenen, lösungsorientierten Austausch mit den Bezirksregierungen. „Das ist ganz normales Arbeitshandeln der Landesverwaltung.“
Zu weiteren Detailfragen sagte sie, ihr Haus sei zu keinem Zeitpunkt mit einer sogenannten WE-Meldung – eine Information über wichtige Ereignisse – über Einzelheiten des Solingen-Anschlags in Kenntnis gesetzt worden. Sie habe bereits im Plenum erklärt, dass die Fachabteilung ihres Ministeriums erst am späten Samstagnachmittag nach der Tat vom Landeskriminalamt (LKA) kontaktiert worden sei. Das LKA habe um Unterstützung gebeten bei einer Asyl-Aktenanforderung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Im Kontakt mit dem BAMF sei deutlich geworden, dass es sich um die Akte des am Folgetag als tatverdächtig geführten Issa Al H. handelte.
Am Sonntag sei dann ein Mitarbeiter ihres Hauses zum Informationsaustausch ins Düsseldorfer LKA gegangen. Dort habe das LKA erstmals bestätigt, dass Issa Al. H. der Tatverdächtige sei. Bei einer Telefonkonferenz zur Vorbereitung einer Kabinettssitzung habe ihre Fachabteilung dann am Sonntag um 14 Uhr die Hausspitze über den Stand der Dinge informiert. Der Sachstand sei dabei auch ihr so vorgetragen worden.
FDP-Fraktionschef Lürbke bilanzierte nach dem Vortrag der Ministerin, er vermisse Führung und Fachkompetenz. Die AfD-Abgeordnete Enxhi Seli-Zacharias sagte, sie vermisse Glaubwürdigkeit und „ein vernünftiges Sicherheitspaket“.