Wahlkampf: Und es hat Wumms gemacht: Der Pistorius-Rückzieher und die Folgen
Die SPD zieht mit dem schwer angeschlagenen Olaf Scholz in die Bundestagswahl, Boris Pistorius zieht zurück. Die Folgen für die SPD, ihre Gegner und den Wahlkampf – in der Blitzanalyse.

Die SPD zieht mit dem schwer angeschlagenen Olaf Scholz in die Bundestagswahl, Boris Pistorius zieht zurück. Die Folgen für die SPD, ihre Gegner und den Wahlkampf – in der Blitzanalyse.

War da was? Um 19.27 Uhr am Donnerstag ploppt unvermittelt ein kurzer Videoclip im WhatsApp-Kanal der SPD auf, als würde es sich um eine Nebensächlichkeit handeln. Der Protagonist: Boris Pistorius. Die Kurzbotschaft: Ich bin raus, Olaf soll’s machen. 

Tagelang hatte die schwer gerupfte Kanzlerpartei mit sich gerungen, sich teils öffentlich gestritten, wer bei den vorgezogenen Neuwahlen im Februar für sie Rennen gehen soll: Olaf Scholz, der entzauberte Regierungsprofi und extrem unbeliebte Amtsinhaber? Oder Boris Pistorius, der unbelastete und schwer populäre Verteidigungsminister? 

Nun ist die Entscheidung zugunsten des unbeliebten Kanzlers gefallen, übermittelt per schnöder Videobotschaft. Also alles gut? Mitnichten. Die chaotische Woche hat ihre Spuren hinterlassen – und das Feld für die Bundestagswahl verändert. Die Blitzanalyse.

1. Die SPD-Basis ist jetzt ein Risikofaktor

Gerade vor Ort, unten an der Basis, hat Pistorius viele Fans. Dort entstand die Bewegung für ihn, fraß sich langsam bis nach oben durch. Wie die Basis nun den Verzicht von Pistorius auslegt, dürfte entscheidend für die Frage sein, mit welcher Motivation sie Wahlkampf macht. Viele Fragen sind noch offen: Wenn es ein freiwilliger Verzicht war, stellt sich die Frage, warum Pistorius nicht schon viel früher eine solche Videobotschaft aufgenommen hat. Kam er auf Druck von Scholz und der Parteispitze zustande, dürfte das seine Anhänger zusätzlich demobilisieren. In jedem Fall sind die vielen Gliederungen vor Ort nun ein Risikofaktor, weil Pistorius als Sehnsuchtsfigur bestehen bleibt und viele den eigenen Kanzler für gescheitert halten. 

Auch in der Bundestagsfraktion ist das „Grummeln“, wie selbst Scholz-Unterstützer und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich einräumen musste, längst zu einem lauten Brüllen geworden. In den vergangenen Tagen sprachen sich immer mehr für Pistorius als Kandidaten aus. Bei den aktuellen Umfragewerten würde sich die Fraktion praktisch halbieren. Insbesondere das gemeinsame Statement von Wiebke Esdar und Dirk Wiese, die zwei von drei Fraktionsflügeln vertreten, wurde als pikantes Signal an Scholz gewertet: Esdar und Wiese hatten zweideutig, aber doch recht eindeutig auf den hohen Zuspruch für Pistorius verwiesen und festgehalten, dass das „aktuelle Ansehen“ von Scholz „stark“ mit der Ampel in Verbindung gebracht wird. Jene Regierung also, die krachend gescheitert ist und sich zuletzt 0 Prozent der Deutschen wiederwünschten.

2. Die SPD-Spitze ist angeschlagen

Die Kanzlerkandidatur ist (vorerst) geklärt – aber was war denn da bitte mit der Parteiführung los? Erst unterschätzte die Spitze um Lars Klingbeil und Saskia Esken die in der SPD anrollende Debatte in der vergangenen Woche, dann ließ sie den Streit so lange ungeklärt, dass selbst wohlmeinende Sozialdemokraten den Kopf über die Parteispitze schüttelten. Die tagelange Diskussion hinterlässt nur Beschädigte, jeder Außenstehende weiß, dass ein Teil der SPD nicht voll hinter ihrem Kanzlerkandidaten steht. Besonders für Klingbeil ist der Ausgang nun ein Risiko, er hängt jetzt mit drin, haftet mit. Verliert Scholz im Februar dramatisch, könnte das auch Klingbeils weitere Laufbahn beeinträchtigen. Die Macht in der Partei hat sich im Laufe der vergangenen Woche verschoben – zugunsten von Pistorius, der selbst ein schlechtes Wahlergebnis nun unbeschadet überstehen dürfte.

3. Mit Olaf Scholz lebt die Ampel im Wahlkampf weiter

… und damit auch das Feindbild, aus dem vor allem AfD und BSW Profit schlagen können. Dem Kanzler wird nichts anderes übrig bleiben, auf die tatsächlichen oder behaupteten Erfolge seiner implodierten Bundesregierung zu verweisen – oder sie zu verteidigen. Für Populisten und Extremisten ein Geschenk. 

Kommentar SPD 15.16

Immerhin: Einem Kandidaten Pistorius hätten AfD und BSW einfacher Kriegstreiberei vorwerfen können. Der Verteidigungsminister wird bis heute von seinem Satz verfolgt, dass Deutschland wieder kriegstüchtig werden müsse. Scholz bietet hingegen mit seinem Taurus-Veto und seinem jüngsten, vielfach kritisierten Telefonat mit Wladimir Putin den selbsternannten Friedensparteien an den Rändern weniger Angriffsfläche. 

4. Für Merz ist diese Entscheidung ein Geschenk

Für Friedrich Merz ist der Rückzug von Pistorius ein Geschenk. Denn der Verteidigungsminister, der sich immer geschickt vom Ampel-Streit fern hielt, wäre für ihn der gefährlichere Gegner gewesen. Mit Pistorius wäre die Erzählung, dass das Land einen Neustart mit einem „unverbrauchten“ Politiker an der Spitze braucht, deutlich schwieriger geworden. Schließlich ist dieser im Gegensatz zu Scholz erst seit zwei Jahren Teil der Bundespolitik und macht ausgerechnet in einem Ministerium, das die Union als ihr Kernthema betrachtet, eine passable Figur. Hinzu kommt, dass Scholz aus dem parteiinternen Streit geschwächt hervorgeht. Statt sich auf den Gegner konzentrieren, wird der Kanzler zunächst viel Zeit aufwenden müssen, um die Partei wieder zu einen.

Dabei hatte sein Umfeld nach der Nominierung von Merz verbreitet, dass man sich darüber freue – weil man den Sauerländer im Gegensatz zu Söder für leichter besiegbar hielt. Nun ist es Merz, der sich freuen kann. 

5. Habeck wittert eine Chance

Ja, auch die Grünen waren eben noch in der Krise, ja, auch ihr Kandidat Robert Habeck ist eigentlich schwer angeschlagen (Stichwort Heizungsgesetz). Jetzt aber hat sich ihre Chance vergrößert, tatsächlich führende Kraft im Mitte-links-Lager zu werden, und am Ende vor der SPD zu landen. Schon im neusten „Deutschlandtrend“, nur kurz vor Pistorius‘ Rückzug veröffentlicht, rückten die Grünen um zwei Punkte auf 14 Prozent auf, die SPD hingegen verlor, nun liegen beide gleichauf. 

Forsa Umfragen Grafiken 20.17

Die SPD hat sich mit ihren internen Kämpfen großen Schaden zugefügt –und am Ende nicht einmal den Befreiungsschlag geschafft. Scholz ist ein gescheiterter Kanzler einer gescheiterten Regierung – auf was sollen die Bürgerinnen und Bürger da für die Zukunft hoffen? Neben dem Kandidaten Scholz dürfte es für Habeck einfacher werden, seine ihm von vielen Seiten attestierten Kommunikationsfähigkeiten ausspielen zu können. Vom derzeitigen Kanzler behauptet das nun wirklich niemand. 

6. Olaf Scholz dürfte am Wahlabend Geschichte sein

Hoch gewinnt Scholz nicht mehr, diese mittelmutige Prognose sei jetzt Ende November erlaubt. Es sind noch 94 Tage bis zur Wahl. 94 Tage, in denen Olaf Scholz die Umfragewerte und die öffentliche Meinung komplett drehen muss. So komplett, dass er nicht mehr der unbeliebteste Politiker des Landes ist, sondern Wahlsieger wird. Bis dahin sollte er auch geklärt haben, mit welcher Koalition er eigentlich weiterregieren möchte. Als Bundeskanzler. Die Ampel wird es nicht sein. Die GroKo nur, wenn er die Union überholt. Wunder über Wunder müssten geschehen.

In allen anderen Fällen wäre Olaf Scholz spätestens am Wahlabend Geschichte. Es wird keine GroKo mit ihm als Vizekanzler geben – wenn die SPD-Prozente überhaupt für eine Mehrheit reichen würden. Und sollten die Genossen gar in der Opposition landen, würde Olaf Scholz erst recht auch nicht ihr Anführer werden.