SPD und Union : Warum die GroKo plötzlich durch die Hauptstadt geistert
Manche träumen dieser Tage schon von einer neuen Große Koalition. Dabei wäre deren Rückkehr eine Art Treppenwitz der Geschichte.

Manche träumen dieser Tage schon von einer neuen Große Koalition. Dabei wäre deren Rückkehr eine Art Treppenwitz der Geschichte.

Die wichtigste Treppe des Bundestags liegt versteckt zwischen dem vierten und fünften Stock des Jakob-Kaiser-Hauses. Sie ist eine Art Abkürzung in die Große Koalition. Zweimal zehn Stufen, zack: Schon stehen SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und Oppositionsführer Friedrich Merz praktisch vor ihren jeweiligen Büros, die übereinander liegen. Das separate Treppenhaus mit Spreeblick ist theoretisch öffentlich zu­gänglich, aber gut versteckt hinter einer ­unscheinbaren Tür, die am Ende eines ­Vorraumes liegt. Kurze Absprache, kurzer Dienstweg. Unauffällig und diskret.

Über diese Treppe fand Angela Merkel 2005 mit Franz Müntefering zu ihrer ersten Großen Koalition zusammen. Als 2017 die Jamaika-Sondierungen platzten, nutzten Andrea Nahles und Volker Kauder sie für neue schwarz-rote Annäherungen. Bald, nach dem 23. Februar 2025, könnte die Treppe wieder bedeutsam werden.

Kein Bündnis sorgt dieser Tage für so viel Fantasie wie die Große Koalition. Wie ein Zombie geistert sie durch die Hauptstadt, gruselig, faszinierend, einfach nicht totzukriegen. Merkels Memoiren wecken Erinnerungen an schwarz-rote Zeiten. SPD und Union feilschen um Projekte, die man vor der Neuwahl noch gemeinsam verabschieden könnte. Und bei CDU und CSU stehen die Signale ohnehin auf GroKo. Sollte die Union aus der nächsten Bundestagswahl als stärkste Kraft hervorgehen, scheint auf den ersten Blick kaum etwas anderes denkbar. Mit der AfD kommt eine Koalition nicht ­infrage. Die FDP siecht seit dem „D-Day“-Desaster in der politischen Todeszone. Und mit den Grünen wolle man ja auf gar keinen Fall gemeinsam Sache machen, wie führende Unionspolitiker bei jeder Gelegenheit ­erklären, allen voran Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident.

Back to the Ex

Bliebe Schwarz-Rot. Da weiß man, was man hat. Kein Bündnis ist populärer, ein Drittel der Wähler hofft einer repräsen­tativen Forsa-Umfrage im Auftrag des stern ­zufolge auf diese Option nach der Wahl. Für Schwarz-Grün könnten sich nur 17 Prozent erwärmen, für Schwarz-Gelb 15 Prozent und für eine Jamaika­koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP nur vier Prozent.

Große Koalition reloaded? Wirklich jetzt? Ausgerechnet jene Liaison, die am Ende zur Karikatur ihrer selbst verkommen war? Ein zuletzt nur noch von purem Überlebenswillen zusammengehaltenes Zweckbündnis, dessen Politik des Stillstands und der Einfallslosigkeit das Land gelähmt hat?

Eine Koalition, die unter Schmähgesängen abgewählt wurde, soll jetzt, drei Jahre später, den Reformstau auflösen und das Land wieder zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand führen. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte.

In der SPD löst der Gedanke, es könnte erneut zu einer arrangierten Ehe mit der Union kommen, bei vielen Unbehagen aus. Zu sehr schmerzt die Erinnerung an die GroKo-Jahre noch, daran, wie es die Partei unter Angela Merkel zerrieb. Wie die eigenen Umfrageprozente purzelten, die Wahlniederlage 2017 historisch ausfiel, die Basis gegen das Bündnis wütete, die Parteivorsitzenden sich an Schwarz-Rot verschlissen.

Warum sollte es ausgerechnet mit der verteufelten „Merz-CDU“ anders laufen? 

Klingbeil gegen Merz

Einer, der die „Merz-CDU“ nicht mal in Sichtweite des Kanzleramtes sehen will, ist Lars Klingbeil. Der SPD-Chef hat die Union zum Hauptgegner erkoren, am härtesten teilt er gegen deren Kanzlerkandidaten aus.

„Die Jungs von der CDU“ würden schon durch Berlin rennen und Ministerposten verteilen, ätzt Klingbeil am vergangenen Samstag beim SPD-Wahlkampfauftakt in der Berliner Parteizentrale. Die Leute könnten diese „Überheblichkeit spüren“. Dass er die Arroganz der Union auf einer Versammlung beklagt, der die SPD den vollmundigen Titel „Wahlsieg-Konferenz“ gegeben hat, fällt den versammelten Wahlkämpfern im Willy-Brandt-Haus nicht auf. Sie jauchzen, jubeln, einer Genossin entfährt ein kräftiges: Jawoll! Auch, als Klingbeil nachlegt.

In seiner Rede wird Merz zur Witzfigur, versteckt von der eigenen Partei, damit die Leute bloß nicht merkten, wen sie da ins Kanzleramt wählen. Zu Merz’ Weigerung, noch ein paar Gesetze vor der Neuwahl zu verabschieden, sagt der SPD-Chef genüsslich: „Friedrich Merz muss aufpassen, dass er nicht der berühmteste Totalverweigerer dieses Landes wird.“

GroKo-Comeback? Dieses Gefühl soll hier gar nicht erst aufkommen.

Es gibt auch andere Stimmen in der SPD. Fachpolitiker erinnern sich nach drei chaotischen Ampel-Jahren an die verlässlichen Absprachen mit den Unionskollegen. Mit dem zeitlichen Abstand ist bei einigen der Blick milder geworden. Bei FDP und Grünen habe man gemerkt, dass sie lange Zeit nicht regiert hätten – mit der Union wäre das anders. Professioneller, geräuschloser.

Große Koalition aus Pflicht?

Offiziell spielt die SPD auf Sieg. Wer in die Parteiführung hineinhorcht, bekommt in solch schillernden Farben das Bild einer Aufholjagd geschildert, dass er zwischen Realitätsverweigerung und Selbsthypnose nicht mehr zu unterscheiden vermag. Wie 2021, heißt es dann dazu. Oder 2005, als ein bereits abgeschriebener Kanzler Gerhard Schröder auf den letzten Metern Merkel beinahe noch um den Sieg brachte. Doch was, wenn’s nur für Schwarz-Rot reicht? Es ist das Lord-Voldemort-Szenario der SPD. Man darf es nicht aussprechen, aber man muss es mitdenken. Damit man vorbereitet ist, wenn es dazu kommt.

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Schon einmal fügten sich die Genossen einer Großen Koalition – aus Pflichtgefühl, nicht aus Überzeugung. Als sich die SPD  2017 nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche noch einmal dafür einspannen ließ; sich dem Gesuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beugte, das „Gemeinwohl“ über den GroKo-Groll zu stellen. Ob die Sozialdemokraten noch einmal so agieren würden, scheint offen.

„Eine Große Koalition sollte nie die präferierte Option sein“, sagt Sebastian Roloff, Mitglied im SPD-Parteivorstand. Zu viel „lebender Kompromiss“, zu wenig mutige Entscheidungen. Eine „Rückfalloption“ – wenn überhaupt. So wie der Bundestagsabgeordnete aus Bayern sehen es viele in der Partei. Und ohne die SPD-Basis sollte niemand seine Rechnung machen. Schon nach der historischen Wahlniederlage von 2017 konnte Martin Schulz seine auf kümmerliche 20,5 Prozent gestutzte SPD nur noch mit Mühe in eine neue GroKo zwingen. Kaum vorstellbar, dass die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken – womöglich mit noch schlechterem Ergebnis – auf weniger Widerstand stießen. Zumal die Autorität der Parteispitze schon nach der vermaledeiten Kandidatenkür von Scholz gelitten hat. Eine Niederlage von Scholz ginge endgültig mit ihnen nach Hause, und jeder Versuch, eine GroKo herbeizuführen, könnte wie der verzweifelte Versuch wirken, die eigene Haut zu retten.

Für die SPD sei eine weitere Koalition mit CDU/CSU „eine ziemlich vergiftete Form der Regierungsbeteiligung“, sagt auch Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing: „Nach meinem Dafürhalten verschleißt sich die Partei in ihrer Dauerregierungsbeteiligung sehr.“ Die Politologin sieht deshalb bei der Frage, wer sich nach der Wahl zusammenfinden könnte, noch „viel Dynamik“.

Abgesehen von den Befindlichkeiten würde mit der GroKo inhaltlich eine Regierung des kleinsten gemeinsamen Nenners drohen. Beim Hauptstreitpunkt der Ampel, der Reform der Schuldenbremse, käme man wohl noch zusammen. Merz hat einen Kompromiss angedeutet: Mehr Geld für Konsum und Sozialpolitik? Nein! Mehr Geld für Investitionen? Ja! Doch ausgerechnet das Herzensprojekt der Sozialdemokraten, das Bürgergeld, will die Union kassieren.

Die SPD – wie eine Überraschungstüte

Streit dürfte es zudem bei einem anderen Topthema geben: In der Ukrainepolitik steht bei der SPD nicht nur Kanzler Olaf Scholz für Zurückhaltung bei Waffenlieferungen, etwa bei Taurus-Raketen. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius, der nach einer Wahlniederlage der SPD der neue starke Mann werden könnte, hat sich dagegen ausgesprochen. Überhaupt verhält es sich mit der künftigen SPD-Spitze wie mit Forrest Gumps Pralinenschachtel: Man weiß nie, was man bekommt – nach der Bundestagswahl.

Was man jetzt schon weiß: Die Polarisierung, die im Willy-Brandt-Haus gerade geplant wird – hier der erfahrene Friedenskanzler, dort der ahnungslose Kriegshasardeur– dürfte beim reizbaren Friedrich Merz Spuren hinterlassen. Für diesen waren die Kränkungen, die ihm einst Angela  Merkel zufügte, der Antrieb für sein Comeback. Nicht auszuschließen, dass er sich auch aus Verletztheit heraus am Ende gegen die SPD entscheiden könnte – und für die Grünen. Vom Fleck weg würde er sich so auch von Merkel unterscheiden. Schwarz-Grün schaffte die Altkanzlerin nie.

Mögen Unionspolitiker deshalb noch so sehr beteuern, dass sie nicht im Traum an eine unmoralische Affäre mit den Grünen denken: In den Erwägungen für die Zeit danach ist sie als eine Option durchaus eingepreist. Selbst Markus Söder griff im stern die von Merz ausgegebene wachsweiche Formel auf, man werde mit „diesen“ Grünen nicht regieren. Von einem Mann, der sich ständig neu erfindet, jeden Tag ein anderer zu sein scheint, ist das vielsagend.

Zwischenmenschlich klappt es zwischen Unionsspitze und der Grünen-Führung ohnehin besser. Zur Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann pflegt Merz ein gutes Verhältnis. Selbst erklärte Hardliner wie Jens Spahn treffen sich mit Grünen-Kollegen regelmäßig im Restaurant „Simon“ in Berlin-Mitte zur „Pizza-Connection“. Zuletzt kam die Runde im Juni dieses Jahres zusammen, lotete das Thema Haushalt und Finanzen aus.

Und was ist mit den Grünen?

Umgekehrt hat Grünen-Chef Felix Banaszak, der in der neuen Doppelspitze für den linken Flügel steht, in Nordrhein-Westfalen die schwarz-grüne Landesregierung unter dem CDU-Mann Hendrik Wüst mit ausverhandelt. Man hat Erfahrung miteinander.

Was gegen eine Koalition mit den Grünen im Bund spricht: Beim aus Unionssicht wichtigsten Zukunftsthema, der Begrenzung der illegalen Migration, ist bei den Grünen kaum Bewegung erkennbar. Gelänge es der Union nicht, hier einen härteren Kurs durchzusetzen, würde sie ihre Stammwählerschaft verlieren, so die große Sorge.

Auch deshalb verursacht der Gedanke an ein schwarz-grünes Bündnis bei vielen Unionisten ebenso schlechte Laune wie der an eines mit den Genossen. „Wir brauchen dringend ein neues Momentum, eine eigene Erzählung“, sagt einer aus dem Maschinenraum der Macht, der CDU/CSU-Fraktion. Dies aber sei weder mit den Grünen möglich noch mit einer in Jahrzehnten des ­Mitregierens verbrauchten SPD.

Allein schon die Aussicht auf Schwarz-Rot könnte all jene ernüchtern, die auf einen grundlegenden Wandel im Regierungshandeln hoffen. Das aber sei gefährlich, glaubt die Parteienforscherin Münch. „Nicht die anstehende Bundestagswahl wird darüber entscheiden, ob unser demokratischer Verfassungsstaat eine verlässliche Zukunft ohne Extremisten in der Regierung hat, sondern die nächste“, so Münch: „Für den Fall, dass auch die kommende Bundesregierung weit hinter den Erwartungen der Bürgerschaft zurückbleiben sollte, wird sich ein viel größerer Teil von den staatstragenden Parteien abwenden, als wir uns das im Augenblick vorzustellen vermögen.“

Wie düster die Lage ist, zeigte eine Forsa-Umfrage von Mitte November. Nur noch insgesamt 26 Prozent der Deutschen glauben, dass Union oder SPD die Probleme des Landes lösen könnten.

Mehr als jeder Zweite traut dies keiner Partei mehr in Deutschland zu.

Tendenz steigend.