Feiern mit Fremden: Frohes Fest: Wie ein ehemaliger Single einsame Menschen für Weihnachten zusammenbringt
Ein ehemaliger Single vermittelt wildfremde Menschen aneinander, die sich am Festtag einsam fühlen – oder einfach nur der Familie entkommen wollen

Ein ehemaliger Single vermittelt wildfremde Menschen aneinander, die sich am Festtag einsam fühlen – oder einfach nur der Familie entkommen wollen

An Heiligabend 2016 stand Christian Fein auf seinem Balkon in Ludwigshafen und rauchte frierend in die Stille hinein. Die sonst so trubeligen Straßen waren leergefegt, keine Menschen, kaum Geräusche. Nicht mal die Eisenbahn vor dem Spielzeuggeschäft unten im Haus fuhr mehr. Fein stellte sich vor, wie all die Frauen, Männer und Kinder in den umliegenden Häuser aufgeregt Geschenke auspackten, gemeinsam kochten und tranken und lachten. „In diesem Moment wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich nicht allein sein wollte“, sagt Fein. Die vergangenen sieben Jahre hatte er mit seiner Frau unter dem Tannenbaum gesessen, doch jetzt waren die beiden getrennt. Sie feierte mit ihrer Familie, zu der er nicht mehr gehörte.Der Unternehmensberater Christian Fein war 2016 an Weihnachten allein. Um anderen diese traurige Erfahrung zu ersparen, vermittelt er mit der Initiative #keinerbleibtallein Fremde fürs Fest aneinander
© Christian Fein

Er zog sein Handy aus der Tasche und schrieb bei Twitter: 

„Ich finde ja, wer zu Heiligabend alleine ist, sollte unter #KeinerTwittertAllein heute Gesellschaft finden. Verbreitet die Kunde!“

Sie verbreitete sich. Im Minutentakt trudelten Kommentare ein.  

„Danke dass Ihr da seid! :-)“

„Wie toll ist denn bitte dieser Hashtag? Schön zu sehen, dass man nicht die Einzige ist, die heute alleine ist.“ 

„Danke an alle da draußen, so fühlt sich der Abend nicht so einsam an. :-* :-)“ 

Christian Fein war noch immer allein, aber plötzlich in bester Gesellschaft. In kürzester Zeit wurde sein Hashtag zum Trending topic Nummer eins auf Twitter. Selbst Silvester und auch im Januar noch nutzten ihn die Menschen, um sich weniger einsam zu fühlen.

„Wir finden schon jemanden, der Gesellschaft leistet.“

Das Jahr verging. Fein lernte eine neue Frau kennen, zog mit ihr zusammen und war wieder glücklich. Als aber der nächste Winter kam, erinnerte er sich wieder daran, wie viele Menschen um diese Zeit auf der Suche nach Gesellschaft waren. „Da bin ich auf diese völlig naive Idee gekommen: Was wäre, wenn ich diese Leute einfach zusammenbringe?“

Er öffnete die blaue Twitter-Taube und schrieb: „So. Falls Dir schon bekannt sein sollte, Heiligabend alleine zu verbringen und Du was dagegen tun möchtest, melde dich unter diesem Tweet. Wir finden schon jemanden, der Gesellschaft leistet/anbietet.“ 

Rund 2700 Menschen schrieben ihm. Einige Hundert konnte er vermitteln. Alles, was er dafür brauchte, war eine Excel Tabelle. „Ich komme aus der Unternehmensberatung, das war für mich am naheliegendsten.“ In der Tabelle sammelte Fein die Accounts der Suchenden und die Städte, in denen sie lebten. Dann wurde verbunden.IV Mazda Adli Großstadt und psychische Krankheiten 20.53 

Nicht nur User wurden auf das Projekt aufmerksam. Feins Idee tauchte im Wort zum Sonntag auf, in Zeitungen, im Fernsehen. Und aus dem Hashtag #keinertwittertallein wurde #Keinerbleibtallein. Auch eine Website gab es jetzt. Im Winter 2018 meldeten sich 18.000, 2019 ganze 65.000. Dann kam Corona. 2020 gab es ein virtuelles Weihnachtstreffen, 2021 trafen sich einige Tausend unter 3G-Vorschriften. So richtig los ging es erst wieder im vergangenen Jahr, als er fast 39.000 Anfragen bekam.

Eigentlich arbeitet Fein als Unternehmensberater bei der Deutschen Post. Aber seit aus seiner Idee ein so großes Projekt wurde, ist er jedes Jahr ab Mitte November einzig und allein damit beschäftigt, der Einsamkeit der Menschen etwas entgegenzusetzen. Seinen gesamten Jahresurlaub setzt er dafür ein, Menschen mit Hilfe seiner Exel-Tabellen zu vernetzen. „Die meisten, die sich bei uns melden, sind zwischen 18 und 50 Jahren alt –  Einsamkeit ist keine Frage des Alters“, sagt Fein.

Sehr unterschiedliche Menschen kommen da zusammen

Als der heute 43-jährige René Reichelt aus Karlsruhe Feins Angebot entdeckte, war er begeistert. „Ich habe sofort entschieden: Alles klar, da machst du mit“, sagt der Informationstechniker. „Nicht mal so sehr, weil auch ich einsam war, sondern weil ich die Idee so toll fand.“

Reichelt ist Heavy User, schon seit einigen Jahren lädt er Fremde an Weihnachten zu sich in seine Wohnung ein. Dort steht ein ausziehbarer Tisch, die fehlenden Stühle holt er von den Nachbarn, von denen einige immer auch beim Fest dabei sind. Er kauft ein für Schweinebraten oder Ente, dieses Jahr wird es wohl Gans geben, dazu immer Thüringer Klöße und viel Soße. Gekocht wird gemeinsam. Früher war die Schäferhündin Dana seine beste Freundin. Heute ist René Reichelt nicht mehr einsam. An Weihnachten lädt er regelmäßig Fremde aus der Umgebung zu sich nachhause ein
© René Reichelt

Es sind sehr unterschiedliche Menschen, die da zusammenkommen. Einmal war eine Frau dabei, die über die Feiertage das Haus ihrer Eltern auflösen musste und nicht wusste wohin. Ein andermal eine Frau mit zwei kleinen Kindern, deren Mann kurz zuvor verstorben war. Und auch mal eine knapp über 20-Jährige, die einen Vorwand suchte, um nicht mit den Eltern feiern zu müssen – so wie Reichelt selbst, der Weihnachten mit der Familie in Erfurt seit Jahren meidet. Vergangenes Jahr war ein Gast drunter, der wohl ein Alkoholproblem hatte: „Das war nicht weiter schlimm, es fiel halt nur allen auf“, so Reichelt. „Alkohol ist ein wichtiges Thema, auf das ich bisher nicht so geachtet habe bisher. Man sollte sich dessen bewusster sein und gerade an den Feiertagen mehr drauf aufpassen.“ Bis zu 13 Gäste hatte er schon. „Je mehr, desto besser“, so seine Erfahrung. In einer kleinen Gruppe sage oft niemand was. „Aber in so einer großen Gruppe kommst du gar nicht drum herum. Kannst du mir mal die Klöße reichen, hier ist die Soße, da ergibt sich so viel Dynamik am Tisch, alle kommen ins Gespräch.“

Viele Initiativen und Vereine helfen den Einsamen und Alleingelassenen

#keinerbleibtallein ist eine von heute vielen Initiativen und Vereinen für vereinsamte Menschen aller Altersgruppen. Da gibt es Apps wie Helpcity, wo sich Menschen in ähnlichen Lebenslagen anonym austauschen können, Vereine wie „Silbernetz e.V.“, der Seniorinnen und Senioren Telefonfreundschaften vermittelt oder „Freunde alter Menschen e.V.“, die Besuchspartnerschaften organisieren. Beim bundesweiten Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de findet man unter dem Menüpunkt „Weihnachten“ alle Inhalte, die Bezug zur Adventszeit und zum Fest haben: Austauschen von Plätzchenrezepten, Weihnachtswünsche posten, Nachbarschaftswichteln, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Lange war Einsamkeit ein Tabuthema, politisch kaum wahrgenommen. Mittlerweile aber hat man in der Politik die Dringlichkeit des Themas erkannt, im vergangenen Jahr verabschiedete die Regierung eine Strategie gegen die Einsamkeit mit mehr als 100 Einzelmaßnahmen. Denn die zunehmende Vereinzelung gefährdet massiv die Gesundheit, geht einher mit Depressionen und körperlichen Erkrankungen wie Diabetes, Herzinfarkten und Schlaganfällen. Sie verkürzt die Lebenserwartung und ist darüber hinaus ein Risikofaktor für die Zivilgesellschaft: Chronisch Einsame lehnen die Demokratie als Regierungsform häufiger ab und neigen eher zu Verschwörungstheorien also solche, die sozial gut eingebunden sind.STERN_PAID 50 Einsamkeit Analyse16.13

Gefährdet durch Einsamkeit sind vor allem Menschen im höheren Alter, mit niedriger Bildung, geringem Einkommen und Arbeitssuchende. In den Jahren der Pandemie kam eine neue Risikogruppe dazu: Jugendliche und junge Erwachsene, denen das soziale Umfeld weggebrochen ist. Einer aktuellen Studie zufolge fühlt sich jeder siebte Jugendliche in Nordrhein-Westfalen stark einsam. Betroffen sind aber auch Menschen, die einen Umbruch hinter sich haben: Trennung vom Partner, Umzug in eine andere Stadt, neuer Job. Menschen, die vielleicht genug Freundinnen und Freunde haben, nur gerade nicht dort, wo sie leben – und nicht an Weihnachten, wenn die Familien zusammenrücken.

Was #keinerbleibtallein von den anderen Angeboten unterscheidet, ist, dass es nur auf Weihnachten und Silvester ausgelegt ist. Und das soll auch so bleiben. „Unterm Jahr ist den Menschen mit einfachen Kontakten vor Ort nicht geholfen. Wir haben das mal in Berlin mit großem medialen Aufwand getestet. Das bringt absolut nichts“, sagt Christian Fein.

Einsamkeit bleibt ein Tabuthema

Bei der Vermittlung geht er bewusst nicht auf Extrawünsche der Suchenden ein. Auch weil er keine Menschen mit kriminellen oder sexuellen Absichten locken will. „Natürlich achte ich aber auf inklusiven Bedarf oder wenn zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter sagt, sie wolle kein männliches Pendant.“ Um die Nachfrage zu stillen, helfen kurz vor Weihnachten oft Freiwillige, in diesem Jahr sind es vier. „Ich habe auch schon überlegt, ob ich eine KI nutze“. Aber dann denkt Fein an diejenigen, die mehr als einen Algorithmus brauchen. Denn manchmal ist die Einsamkeit schon so weit fortgeschritten und der Gesprächsbedarf so groß, dass er diese Menschen zuerst an eine Telefonseelsorge vermittelt. Hat er den Verdacht, dass Menschen suizidgefährdet sind, versucht er auch, Hilfe aus der Nähe zu organisieren. Ein paarmal hat er auch schon einen Rettungswagen oder die Polizei geschickt.

Eines erreichen #keinerbleibt allein und all die anderen Initiativen bisher nicht: Dass das Thema Einsamkeit aus der Tabuzone befreit wird. Dass Betroffene offen darüber sprechen können, dass sie sich zu oft alleine in der Welt fühlen. Auch Psychotherapeuten und Allgemeinärztinnen, mit denen der stern für diese Recherche sprach, wissen: An das Thema Einsamkeit gelangt man nicht durch die gezielte Frage: „Fühlen Sie sich oft einsam?“ Die meisten Menschen würden das verneinen, auch wenn sie es sind.

Sogar wer sich nur an Weihnachten alleine fühlt, hat offenbar Probleme damit, sich öffentlich dazu zu bekennen. Das muss Fein immer wieder erfahren, wenn er vor den Festtagen von Medien angefragt wird, ob er ihnen Nutzerinnen oder Nutzer seines Portals vermitteln könnte. Fein ist froh, dass wenigstens der Karlsruher ITler René Reichelt so offen mit dem Thema umgeht. 

Eine andere Frau, die er an den stern vermittelte, stellte per Mail klar, dass es sich vielleicht um ein Missverständnis handeln könnte: „Das Thema Einsamkeit steht bei mir im Allgemeinen nicht im Vordergrund, ich möchte einfach nur den Heiligabend, den meine Freunde in ihren Familien verbringen, nicht alleine feiern.“ Im Telefonat wurde deutlich: Sie fürchtete auch, dass ihr Arbeitgeber erfahren könnte, dass sie sich an Weihnachten mit Fremden trifft, weil sie sonst alleine wäre. So als ob es eine Schande wäre, Angebote wie #keinerbleibtallein zu nutzen.

In der Politik ist Einsamkeit zum Topthema avanciert. Die Menschen aber müssen erst noch lernen, offen darüber zu sprechen – und das Gefühl vielleicht sogar erst einmal vor sich selbst zuzugeben. Es hat auch positive Seiten, so sieht es die Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann. Es ist ein „Warnsignal“. So wie Durst uns motiviert, mehr zu trinken, treibt es uns dazu, uns um mehr um soziale Kontakte zu bemühen. Meistens gelingt das. Dieses Weihnachten könnte ein Anfang sein.

Dieser Text erschien in einer ersten Fassung am 20. Dezember 2023. Er wurde an einigen Stellen aktualisiert. Der „Heavy user“ René Reichelt, der schon in den vergangenen Jahren Fremde zu Weihnachten einlud, führt seine Tradition auch dieses Jahr weiter.