Die Mutter von Autor Dinçer Güçyeter begreift nicht so recht, dass ihr Sohn sein Geld mit dem Schreiben verdient. Dafür versteht sie so ziemlich alles andere vom Leben.
Nah sind wir uns, wenn ich sie bitte, ein bestimmtes Gericht zu kochen, und ich ihr das Gefühl gebe, dass nur sie das auf diese Art kochen kann. Hülsenfrüchte, Bohnen, Erbsen, diese Gerichte gelingen meiner Mutter am besten, sie bereitet sie nach ägäischer Rezeptur zu. Nah sind wir uns auch, wenn ich ihr vorschlage, komm, lass uns einen kleinen Spaziergang machen. Oder wenn wir die Drogerie besuchen und Cremes kaufen. Sie hat nie viele Kosmetikartikel benutzt, aber immer diese blaue Nivea-Dose in der Tasche. Das ist ihr Geruch, ihre Welt, darin begegnen wir uns. So würde ich auch meine Gedanken über meine Mutter betiteln: Die blaue Nivea-Dose.
„Meine Mutter verlor mit dem Tod meines Vaters eine Schutzmauer“
In meiner Kindheit und Jugend wollte meine Mutter Druck auf mich ausüben. Dieser Druck war nicht böse gemeint, er hatte mit ihren Ängsten zu tun. Sie hatte mit zehn Jahren ihren anatolischen Vater verloren, ein großer Verlust. Mit seinem Tod ist ihr eine Schutzmauer verloren gegangen. Mit 19 Jahren musste sie einen Mann heiraten, den sie nicht kannte, mit 20 in ein Land ziehen, dessen Sprache sie nicht beherrschte, dessen Kultur ihr fremd war. Sie musste immer wieder von vorne beginnen. Und das hat sie auch geschafft. Ihre Kinder sollten einen guten Beruf lernen, es leichter haben.
Und dann kommt ihr Sohn Dinçer und sagt: Ich möchte Künstler werden. Ich möchte Teil einer Welt sein, Mutter, die dir völlig fremd ist. Ich sage auf meinen Lesungen immer: Man könnte mir den Literaturnobelpreis verleihen und meine Mutter würde am gleichen Abend fragen: Was ist jetzt mit deiner Rente? Sie begreift immer noch nicht, dass man mit Schreiben, mit der Kunst Geld verdienen kann. Aber das hat seine Gründe. Um die zu verstehen, muss ich von den Milieus erzählen, in denen sie ihr Leben verbracht hat.
„Meine Mutter hat versucht, allen eine Ordnung im Leben zu ermöglichen“
Sie hat in Deutschland über 40 Jahre in Fabrikhallen gearbeitet, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Mein Vater hatte eine Kneipe, in der hat sie auch gearbeitet und trat mütterlich auf, gegenüber allen. In der Kneipe hatten wir nicht nur die Stammgäste, sondern auch Obdachlose und viele Frauen, die nach Deutschland gekommen waren, um sich zu prostituieren. Aus Polen, aus Rumänien. Aber auch aus der Türkei. Sie hat versucht, ihnen allen eine Ordnung im Leben zu ermöglichen.
Heute ist sie 77 Jahre alt und lebt im Erdgeschoss unseres Hauses in Nettetal. Ich sehe sie fast jeden Tag. Von April bis Oktober wohnt sie in der Türkei, in der Stadt Uşak, und ich glaube, das tut ihr sehr gut, auch wenn sie sich über viele Dinge beklagt. Die Türkei ist für sie die alte Erde. Sie bestückt ihre Vorratskammer, obwohl sie allein lebt. Oft fragen wir uns, für wen sie hunderte Gläser Tomatensaft und Gemüse einmacht, das Obst trocknet. Sie sagt, für meine Kinder, aber meine Kinder sind auch nur vier Wochen im Sommer dort.
„Frauen wie meine Mutter standen fast nie im Mittelpunkt der Gesellschaft“
Von außen sieht es aus, als ob wir immer eng miteinander gelebt hätten. So war es nicht. Es gab immer einen Abstand, und den wollte ich. Wenn es diese Distanz nicht gegeben hätte, hätte ich mich nicht verwirklichen können. Meine Mutter versucht zu begreifen, was ich mache. Zuletzt waren wir auf der Theater-Premiere in Münster, wo die Bühnenfassung meines Romans „Unser Deutschlandmärchen“ aufgeführt wurde. Davor saßen wir in Berlin und in Magdeburg auf den Bühnen. Ich nehme sie bewusst mit. Erstens, um den Leuten zu zeigen: Frauen wie meine Mutter existieren, Frauen mit Kopftuch oder mit Arbeiterschürze. Diese Frauen gab es immer schon. Aber wie oft standen sie im Mittelpunkt der Gesellschaft? Fast nie. Zweitens will ich meiner Mutter zeigen, was die Menschen mit den Texten ihres Sohnes machen. Wofür ich Stunden am Schreibtisch verbracht habe. Ich finde das wichtig. Ich bin nicht der erste und werde nicht der letzte sein, der im Elternhaus diese Reibung erlebt hat.
Von Dinçer Güçyeter ist erschienen: „Unser Deutschlandmärchen“, Verlag mikrotext 2022, 25 Euro