Familie: "Meine Mutter ist für uns das Gangsterauto gefahren"
Bestsellerautor Ewald Arenz ("Zwei Leben") erinnert sich an seine Mutter, die ihn an den Haaren zog, seine Kreativität unterstützte – und schließlich dement wurde

Bestsellerautor Ewald Arenz („Zwei Leben“) erinnert sich an seine Mutter, die ihn an den Haaren zog, seine Kreativität unterstützte – und schließlich dement wurde

Meine Mutter war sehr liebevoll mit uns Kindern, und dennoch kein besonders mütterlicher Typ. Zwischendurch tauchte sie ab in ihre eigenen Welten. Einmal hatte sie sich auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt für eine Spielzeugeisenbahn begeistert. Mein Vater hat uns dazu gebracht, dass wir Kinder ihr zusammen diese Eisenbahn schenken. Monatelang hat meine Mutter an der Minitrix-Eisenbahnlandschaft gebaut. Sie hat Moss geholt, kleine Häuschen gebastelt. Manchmal gab es kein Abendbrot, weil sie beim Spielen vergessen hatte, eines zuzubereiten. Man musste sich dann selbst versorgen. Ähnlich ging es ihr mit Büchern. Mein Vater hat erzählt, dass wir nicht gefragt hätten: Wo ist Mutti? Sondern: Wo liest Mutti?

„Ich habe früh Verantwortung übernommen, das hat mich geprägt“

Sieben Kinder hat sie aufgezogen, ich bin der Älteste. Wir konnten schwer an ihr vorbeigehen, ohne dass sie uns schnell an sich gezogen und abgeküsst hat. Trotz meiner vielen Geschwister hatten ich und meine Mutter immer auch eine Zweierbeziehung. Aber natürlich war ich auch froh, wenn sie mit meinen viel jüngeren Geschwistern beschäftigt war, und ich nicht unter Beobachtung stand. Mein Vater war Pfarrer. Er war sehr durchgeistigt, mit dem praktischen Leben hatte er fast nichts zu tun. Als ich älter wurde, kam mir deshalb eine Art Partnerrolle zu: Meine Mutter schickte mich zu den Elternabenden meiner Geschwister, da war ich 17 oder 18 Jahre alt. Das hat kein Mensch gemerkt, und mir hat es gefallen. Ich habe früh Verantwortung übernommen, das hat mich geprägt.

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Ich war kein guter Schüler, und zum Glück hat mich meine Mutter spüren lassen: Schule ist nicht das Wichtigste. Was ihr gefallen hat, waren meine künstlerischen Versuche. Theater spielen, Geschichten schreiben, Gedichte. So etwas hat sie ernst genommen, und ich fühlte mich gesehen. Als ich 16 war, haben mein jüngerer Bruder und ich einen Gangsterfilm gedreht. Wir brauchten jemanden, der das Gangsterauto fuhr, und das hat meine Mutter gemacht. Sie ist gefahren wie der Teufel. Sie hat auch wirklich zugehört, wenn ich ihr etwas Selbstgeschriebenes vorgelesen habe. Abitur oder Uni-Examen wurden nicht gefeiert, mein erster Roman hingegen schon: Sie war sehr stolz.

„Meine Mutter hatte die Größe, sich bei uns zu entschuldigen“

Und doch sind meine Erinnerungen an meine Mutter mehrschichtig. Sie sagte zum Beispiel, dass sie uns nicht habe schlagen wollen. Zum anderen wusste sie sich manchmal nicht anders zu helfen, und dann hat sie uns an den Haaren genommen. Oder sie hat uns eingesperrt ins Kinderzimmer. Dann konnten wir halt mal zwei Stunden nicht raus. Das haben wir als Kinder einfach so hingenommen. Einmal habe ich gesagt: Mama, das tut so weh, wenn du uns an den Haaren ziehst, dann schubse uns doch lieber! Sie war dann richtig erschrocken, hatte aber den Mut und die Größe, wenn sie etwas falsch gemacht hatte, zu ihren Kindern zu gehen und sich zu entschuldigen.

Ich glaube, mein Blick auf meine Mutter kann ihr kaum gerecht werden. Nicht in dem, was sie abseits ihrer Mutterrolle noch hätte sein können, als Frau. Sie hat über sich gesagt: Ich bin keine richtige Künstlerin. Wenn ich mir heute anschaue, was sie gezeichnet hat, finde ich: Doch, sie war künstlerisch begabt. Sie hätte auch ein anderes Leben führen können, und ich denke, dass sie sich manchmal zu diesem anderen Leben hingezogen fühlte. Ihre Mutter war Künstlerin und hat ihre Kinder zurückgelassen bei ihrer Mutter, also meiner Großmutter. Meine Mutter war zehn, als ihre Mutter sie zu sich holte. Sie hat ihre Mutter bewundert und geliebt, sie schien ihr so eigenständig zu sein. Aber sie hat sie natürlich auch unglaublich vermisst, das zeigen alte Briefe. Ich denke, dass meine Mutter einen Gegenentwurf leben wollte mit einer intakten Familie, in der keiner zurückgelassen wird. Und das hatte einen Preis.

Schwer war der Tag, an dem ich feststellte, dass sie dement ist. Meine Geschwister hatten es früher gemerkt, sie waren häufig mit ihr unterwegs. Ich war damals Ende 40 und wusste, nun kann ich meine Mutter wohl nicht mehr um Rat fragen. Dabei wusste sie immer eine Antwort. Sie war sehr bestimmend und behielt ihre Mutterrolle lange: Dadurch, dass ich so viel jüngere Geschwister habe, lebten eigentlich bis zu ihrem Tod vor fünf Jahren Kinder im Haus, das hat sie sich auch so gewünscht.

Von Ewald Arenz ist erschienen: „Zwei Leben“, Dumont 2024, 25 Euro