Die Mutter von Michael Meisels, 79, war Jüdin und lebte mit falschen Papieren in Berlin. Durch die Geburt ihres Sohnes flog 1945 ihre Identität auf. Beide überlebten knapp.
Ich war ihr Sonnenschein, ihr Kostbarstes. Dabei hätte es jeder verstanden, wenn sie mich abgelehnt hätte. Meine Geburt hat ihr Leben bedroht, ich war ein denkbar ungewolltes Kind. Meine Mutter war Jüdin und lebte mit falschen Papieren im Untergrund in Berlin, als im Februar 1945 ihre Wehen einsetzten. Sie musste in ein Krankenhaus, und dort ist sie aufgeflogen. Ich war vier Tage alt, als meine Mutter und ich und meine Großmutter verhaftet wurden. Zwei oder drei Wochen warteten wir in einem Gestapo-Krankenhaus auf unseren Abtransport ins Lager Theresienstadt. Da das Schienennetz zerbombt war, verliefen diese Transporte nicht mehr regelmäßig.
„Meine Mutter hat nur wenige Erinnerungen über die Kriegsjahre mit mir geteilt“
Meine Mutter hat nie über diese Zeit gesprochen, sie hat lieber nach vorne geschaut. Nur wenige Erinnerungen hat sie mit mir geteilt. In Viehwaggons wurden wir nach Theresienstadt gefahren, einmal soll ich blau angelaufen sein. Eine Mitinsassin war Ärztin und hat mich wohl ins Leben zurückgeklopft. Angeblich habe ich hinterher gelacht, so hat es meine Mutter erzählt, den ganzen Waggon hätte ich aufgeheitert. Ich weiß nicht, warum wir überlebt haben. Ich stelle mir vor, dass ich die drei Monate bis zur Befreiung durch die Russen immer an der Brust meiner Mutter gelegen habe. Das hat mich stark gemacht.
Und dann sind wir zurück nach Berlin. Vielleicht zu Fuß, vielleicht hat uns Militär mitgenommen, ich weiß es nicht. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie an Bergen von Leichen vorbeigekommen ist. In Berlin gab es eine Organisation, die sich um noch lebende Juden gekümmert hat. Auch um uns. Und von da an ging es bergauf.
„Erst mit 18 erfuhr ich, wer mein Vater war“
Zunächst wohnten wir in Ostberlin zusammen mit meiner Großmutter. Mein Vater war Spanier, meine Mutter ist ihm im Untergrund begegnet. Er hat auch überlebt. Als wir zurückkamen nach Berlin, hat er Kontakt gesucht. Mir gegenüber behauptete meine Mutter immer: Dein Vater ist tot. Sie wollte nicht mit ihm zusammen sein, er war bereits verheiratet und hatte Kinder. Ab und zu hat er uns besucht, ein oder zweimal im Jahr, und jedes Mal wurde er mir als Freund meines Vaters vorgestellt. Erst als ich 18 war, hat sie mir dann gestanden: Das ist dein Vater. Ich mochte ihn. Wir hatten losen Kontakt.
Meine Mutter heiratete einen Juden, der 20 Jahre älter war als sie. Es war eine kurze Ehe, aber mir gegenüber hat sich der Mann völlig korrekt verhalten. Wir sind zu ihm nach Westberlin gezogen. Nach der Scheidung wohnten wir in einer Sechseinhalbzimmerwohnung am Kurfürstendamm. Hier wurde meine Mutter eine typische Berliner Zimmerwirtin, sie hat die anderen Zimmer vermietet. Das war ihr Einkommen. Oma kam fast jeden Tag zu uns, sie lebte ein paar Straßen weiter. Wenn ich spät oder sehr spät heimkehrte, saß sie dort und wartet darauf, von mir nach Hause begleitet zu werden.
Meine Klassenkameraden haben sich gewünscht, sie hätten eine Mutter wie ich. Das haben manche gesagt, und darauf war ich stolz. Sie war eine schöne Frau, freundlich. Ich kann mich nicht an Streit erinnern. Einmal habe ich einem Mitschüler die Mütze vom Kopf geschlagen, weil er mich geärgert hatte. Am selben Abend stand seine Mutter vor unserer Tür und hat ihr Leid geklagt: Schauen Sie sich mal die Mütze an, hat sie gesagt, Sie müssen sich Ihren Jungen mal vornehmen! Wie schrecklich, hat meine Mutter gesagt, ich werde mit ihm reden. Kaum war die Frau weg, hat sie mich in den Arm genommen. Sie war meine Komplizin. Sie war auf meiner Seite, immer.
„Meine Mutter sagte mir immer, dass ich ein Glückskind sei“
Ich weiß nicht, wie meine Mutter das Erlebte verarbeitet hat. Ab und an war sie niedergeschlagen. Sie sagte: Ich habe meinen Moralischen. Sie war dann apathisch. Ich nehme an, das waren unbehandelte Depressionen. Sie hat dann noch mal geheiratet, einen Mann aus Schleswig-Holstein. Mit ihm ist sie nach Kassel gezogen, wo er arbeitete. Eines Tages sind die beiden mit dem Auto verunglückt, da war meine Mutter 59 Jahre alt. Sie lag im Koma. Ich habe drei Tage an ihrem Bett gesessen, habe erzählt und erzählt. Ich habe gedacht, sie muss meine Stimme hören. Ihr Gesicht war unversehrt, sie hatte innere Verletzungen. Den beiden war von links einer reingefahren. Ihr Mann war sofort tot.
Ihr Erbe aber bleibt ihr positives Denken. Ihre Zuversicht. Sie hat mir beigebracht, mich nicht aufzuregen über Dinge, die ich nicht ändern kann. Du bist ein Glückskind, hat sie immer zu mir gesagt, du bist an einem Sonntag geboren! Ihre Liebe hat mich zu diesem ruhigen Mann gemacht, der ich bin. Es mag seltsam klingen, aber ich denke, ich habe alles unbeschadet überstanden. Ich habe tatsächlich das Gefühl, Glück zu haben. Ich möchte zu keiner anderen Zeit an keinem anderen Ort leben als genau hier und jetzt.