In der Trauer scheint Magdeburg nach der Amokfahrt zweigeteilt. Die AfD mischt am Montagabend Verzweiflung mit Wahlkampf.
Um 18 Uhr schneidet Glockenläuten durch die Stille auf dem Magdeburger Domplatz. Gerade hat der letzte Redner der Kundgebung mit dem Satz geschlossen: „Schöpfen wir Kraft in der Hoffnung, dass es für den kleinen André im Himmel keine Tränen mehr gibt.“ Nun schweigt die Menge.
André, das ist der neunjährige Junge, den der Attentäter von Magdeburg am Freitagabend getötet hat. Mit einem SUV fuhr er mitten hinein in den Weihnachtsmarkt – und damit in das Herz von Magdeburg. Fünf Menschen sind tot, über 200 weitere verletzt.
Aber das hier ist keine normale Trauerkundgebung, die die AfD drei Tage später abhält. Es ist doch die Wahlkampfveranstaltung geworden, die die in weiten Teilen rechtsextreme Partei angeblich vermeiden wollte.
AfD-Kundgebung in Magdeburg: „Alice, Alice“-Rufe
Für den Stargast des Abends hat man bunte Knicklichter verteilt. Das Neon-Leuchten sei „der richtige Empfang“ für die Bundesvorsitzende Alice Weidel, heißt es von der Bühne.
Schon vor Weidels Auftritt hat es „Alice, Alice“-Rufe gegeben. Ihre Ankunft wird bejubelt. Während ihrer Rede rufen einige „Alice für Deutschland“ – in Anlehnung an eine verbotene NS-Parole.
Doch bevor Alice Weidel hier und jetzt den Ton für den kommenden Wahlkampf prägen kann, muss noch etwas ausgeräumt werden. Matthias Büttner, innenpolitischer Sprecher der Landtagsfraktion, nennt es „ein Märchen gleichgeschalteter Medienhäusern“, dass der Attentäter „etwas mit der AfD zu tun hatte“. Die Menge buht.
Taleb A. lebte in Bernburg südlich von Magdeburg. Büttner führt dort den AfD-Kreisverband. Zu keiner Zeit habe man Kontakt zu diesem Mann gehabt, sagt er.
AfD änderte ihre Strategie
A., saudischer Staatsbürger, anerkannter politischer Flüchtling und Psychiater in einem Maßregelvollzug, hatte auf Plattformen wie X jahrelang unterschiedlichste krude Theorien verbreitet. Dabei sympathisierte er in mehreren Tweets auch mit der AfD, wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Islam und Migration.
In einem Interview mit einer US-amerikanischen Organisation sagte A. noch kurz vor der Tat: „Regierungen nutzen die Massenmigration als Mittel der Destabilisierung.“ Das gleicht dem Verschwörungsglauben vom sogenannten Großen Austausch, dem in der AfD viele anhängen.
Auch wegen solcher Aussagen änderte die AfD ihre Strategie. Hatten ihre Vertreter noch am Abend der Tat eiligst behauptet, diese stehe in direktem Zusammenhang mit der Migration seit 2015, liegt der Fokus nun auf dem offensichtlichen Behördenversagen. Dieses bietet zahlreiche Steilvorlagen.
Diverse Behörden sollen in den vergangenen Jahren Warnungen und Hinweise zu Taleb A. erhalten haben: das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst, die Berliner Polizei und die in Sachsen-Anhalt. BKA und LKA waren mit ihm beschäftigt. Auch wurde er 2014 nach Drohungen zu einer Geldstrafe verurteilt. Vieles davon haben Recherchen von Medien wie „Welt“ und MDR aufgedeckt.
Gegenüber dem Dom steht der Landtag. Dort hat kurz zuvor eine Sondersitzung des Ältestenrats stattgefunden. Sachsen-Anhalts Innenministerin, Tamara Zieschang (CDU), berichtete, dass allein 2023 und 2024 zwei Gefährderansprachen mit Taleb A. durchgeführt wurden. Eine dritte scheiterte.
Wie habe er da noch als Arzt arbeiten können? Wieso war er noch in Deutschland? Es sind Fragen, die die AfD sowohl im Landtag als auch auf dem Domplatz stellt. Taleb A. sei „ein Deutschland hassender Mensch“, der dorthin zurückgeschickt gehöre, „wo er hergekommen ist“, ruft der Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider. Die Menge quittiert das mit „Abschieben“-Rufen.
Mindestens unglücklich wirkt auch ein Satz, den Justizministerin Franziska Weidinger (CDU) im öffentlichen Teil der Landtagsanhörung sagt. Es geht um das Motiv von Taleb A. Weidinger sagt, A. habe eine Schlechterbehandlung saudischer Flüchtlinge gegenüber anderen Geflüchteten in Deutschland beklagt. Als das auf der Kundgebung zitiert wird, ruft ein Zuhörer nach der Todesstrafe.
Weidingers Aussage bezieht sich auf die erste Vernehmung des Tatverdächtigen am Samstag. Sie ist fast so ähnlich bereits in einer Pressekonferenz am Samstagnachmittag gefallen – da allerdings mit dem Zusatz, dass es sich eben um eine erste Aussage A.s handele und dass diese zum jetzigen Zeitpunkt weder belegt noch vollständig sei.
Doch auf dem Domplatz scheinen die meisten ohnehin sicher zu sein, dass ein Mann aus einem muslimisch geprägten Land nicht zum Töten auf einen deutschen Weihnachtsmarkt fährt, um damit gegen eine vermeintliche Islamisierung zu protestieren. Oliver Kirchner, Fraktionsvorsitzender der AfD im Landtag ruft: „Wer diese Geschichte glaubt, dem ist nicht mehr zu helfen.“
Weidel versucht, staatsmännisch zu klingen
Dann ist Alice Weidel dran. Die Knicklichter leuchten ihr lila und grün entgegen. Weidel spricht wie alle Redner an einem Pult mit AfD-Logo und einer schwarzen Kerze.
Auch ohne gesicherte Informationen nennt sie A. einen „Islamisten voller Hass“. Der Freitagabend sei eine „Wahnsinnstat“. Weidel versucht jedoch, staatsmännisch zu sein.
Mehrfach betont sie den Zusammenhalt. Sie verbindet sich mit dem toten André, sagt, „als Mutter von zwei Jungen“ in ähnlichem Alter falle es ihr schwer, „das Ereignis mit einer gebotenen Distanz zu betrachten“. Kein Versuch, „die Tat auch nur im Ansatz zu erklären“, könne jetzt Trost spenden.
Dann gibt Weidel wieder AfD pur. Mit dem ihr eigenen Nachdruck ruft sie: „Jemand, der alles verachtet, wofür wir stehen, was wir lieben, der gehört nicht zu uns.“
Der Neonazi-Spruch „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“ schallt ihr im Chor entgegen.
Zwei Tage zuvor, beim ökumenischen Gedenkgottesdienst der Stadt, hatte es hier am Dom noch andere Töne gegeben. Landesbischof Frank Kramer sagte, die Stadt spüre „Ohnmacht, Verzweiflung, Wut“. Er aber mahnte: „Öffne dein Herz nicht für Hassrede und Gewalt, sondern halte es weich.“ Mehrere Tausend Menschen hörten andächtig zu.
Magdeburg Sicherheitskonzept Kommentar 09.16
Nun sind wieder mindestens genauso viele gekommen. Und die AfD bedient den ganzen Dreiklang der Gefühle, auch die Wut. Sie nutzt sie für sich.
In der Trauer wirkt die Stadt zweigeteilt
Als Alice Weidel ihre Rede beendet, steht sie noch einen Moment mit glasigen Augen da, sichtlich übermannt von dem Moment, vielleicht von der Tat, vielleicht auch vom Zuspruch. Mehrfach ist auf die kommende Bundestagswahl verwiesen worden. Weidel wird als Spitzenkandidatin antreten.
Interview Migranten in Magdeburg
Damit hat die AfD die Kritik im Vorfeld erfüllt. „Magdeburg trauert – die AfD eröffnet ihren Bundestagswahlkampf“, hatte etwa „Magdeburger Miteinander e.V.“ geschrieben. Der Verein betreut Demokratie-Projekte.
Seine Mitarbeiter nehmen am Montagabend an einer Menschenkette in der Nähe des Tatorts teil. Auch dort versammeln sich Tausende. Für einen Moment wirkt Magdeburg zweigeteilt. Ganz anders als es ein Banner behauptet, das AfD-Abgeordnete beim abschließenden Trauermarsch tragen. Darauf steht: „Trauer vereint“.