Frauengesundheit: "Mein Schmerz ist es wert, gehört und gesehen zu werden"
Frauen werden in Praxen weniger ernst genommen, ihre Beschwerden häufiger als Wehwehchen abgetan. Das hat kulturelle Wurzeln. Zeit als Patientin endlich selbstbewusst aufzutreten!

Frauen werden in Praxen weniger ernst genommen, ihre Beschwerden häufiger als Wehwehchen abgetan. Das hat kulturelle Wurzeln. Zeit als Patientin endlich selbstbewusst aufzutreten!

Die Journalistin Eva Biringer hat mit „Unversehrt. Frauen und Schmerz“ eine feministische Erkundung über den weiblichen Schmerz geschrieben. Ein Gespräch über „Bikini-Medizin“, weibliche Selbstverletzung und schmerzhafte Schönheitsnormen.

Frauen bringen unter entsetzlichen Schmerzen Kinder zur Welt, während Männer für ihr Leiden an der „Männergrippe“ belächelt werden. Wieso gelten Frauen dennoch als das schwache Geschlecht, als eines, dessen Nerven man beruhigen muss? 
Das Stereotyp von der ihrem Körper unterworfenen Frau fängt schon bei den alten Griechen an. Hippokrates hat behauptet, eine inaktive Gebärmutter ertrinke in ihrem eigenen Blut, im Mittelalter hieß es dann, sie wandere durch den Körper und am besten beruhige man sie durch Sex und Schwangerschaft. Ein guter Vorwand, um die Frau gefügig und sexuell verfügbar zu machen. 

Heute erscheint das geradezu absurd.
Wir lachen, aber es hat nie aufgehört. Nach der Gebärmutter waren es die Nerven, danach waren es die Eierstöcke, die Periode und jetzt sind es die Hormone, die die Frau in Schach halten. Es ist immer irgendwas. Man nennt das auch „Bikini-Medizin“: Fast egal, was eine Frau hat, es ist angeblich immer auf die primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale zurückzuführen. 

Zur Person

Mit verheerenden Folgen: Auf einen schmerzmittelabhängigen Mann kommen gut doppelt so viele Frauen.
Frauen werden öfter mit Schmerz– oder Beruhigungsmitteln abgespeist, aber auch länger nicht korrekt diagnostiziert, obwohl sie zum Beispiel häufiger von Autoimmunkrankheiten betroffen sind. Ihr Schmerz wird weniger ernst genommen. Man nennt ihn „somatoform“ oder „funktional“, aber dahinter verbirgt sich dasselbe: Die Frau übertreibt. Eine amerikanische Studie hat herausgefunden, dass selbst Krankenschwestern weiblichen Patientinnen mehr Wehleidigkeit unterstellen als männlichen. Man geht davon aus, dass Frauen mit ihrem Leid Aufmerksamkeit generieren wollen. 

Forschung Männer vs. Frauen

Neu mag für viele Leser:innen das Phänomen der Neurastenie sein, einer nervösen Erschöpfung, um deren Diagnose sich Männer im ausgehenden 19. Jahrhundert geradezu rissen. Bei Frauen wurden die gleichen Symptome hingegen als pathologisch abgetan. Ist das nicht heute noch genauso? Wenn ein männlicher Promi über seine Depression schreibt, wird das ein Megaseller. Das können Frauen lange versuchen… 
Gerade bei psychischen Erkrankungen wird es viel mehr beklatscht, wenn ein Mann damit rauskommt: Frauen haben ja eh immer irgendwas, das ist nicht weiter erwähnenswert. Depressionen stehen aber auch synonym für Verletzlichkeit und Schwäche, also Dinge, die nicht primär mit Männlichkeit assoziiert sind. Natürlich schafft das auch noch einmal mehr Aufmerksamkeit. 

Depressionen äußern sich bei Männern auch anders als bei Frauen. 
Natürlich gibt es immer Gegenbeispiele, aber tendenziell leiden Frauen eher an Niedergeschlagenheit und Schlafstörungen, also den klassischen depressiven Symptomen, während Männer oft mit Aggression oder Suchtmittelmissbrauch reagieren. Darum ist eine Diagnose bei männlichen Patienten auch oft nicht so einfach, da sind sie ausnahmsweise im Nachteil. Es ist wie so häufig in Krisensituationen: Männer tragen ihr Problem nach außen, nämlich durch Aggression, durch Gewalt gegen andere, Frauen eher nach innen, also entweder, indem sie es gar nicht erst zeigen oder durch Gewalt gegen sich selbst. 

Woher kommt diese Tendenz, eher sich selbst zu verletzen als andere?
Frauen sollen nicht wütend sein, schon kleinen Mädchen wird das aberzogen. Und wenn sie es dann doch sind, werden sie als viel weniger sympathisch wahrgenommen. Das Stereotyp der versehrten Frau zieht sich durch unsere komplette Kulturgeschichte. Es verleiht einer Frau sogar etwas Erotisches, wenn sie leidet.

Weil sie so schutzlos und schwach ist, den Mann also nicht in seiner Männlichkeit bedroht?
Genau, weil sie den männlichen Schutz braucht.

Warum bleiben so viele Frauen in Beziehungen, die körperlich oder emotional auf ihre Kosten gehen? 
Auf den ersten Blick können die Gründe banal erscheinen: Haus, Kinder, gemeinsame Existenz, das schafft Verpflichtung und Abhängigkeit. Dazu kommt, dass alleinstehende Frauen nach wie vor anders bewertet werden als alleinstehende Männer. Vor allem aber haben Frauen gelernt, mit einer gewissen Form von Schmerz umzugehen, also zu akzeptieren, zu schlucken, Situationen hinzunehmen, die ihnen vielleicht nicht guttun, weil sie mit dem Wissen aufgewachsen sind: Als Frau hat man so etwas zu ertragen. Trennungen sind der häufigste Grund für Femizide.

Für die weibliche Tendenz, Unzufriedenheit runterzuschlucken, sie runterzudimmen durch Medikamente beispielsweise, verwenden Sie den Begriff des „Self-Silencing“. Was kann man denn tun, um nicht in diese Falle zu tappen?
Der eigenen Wut Raum lassen, ihr Ausdruck verleihen. Als die eigene Anwältin auftreten, darauf bestehen, dass Symptome ernst genommen werden, dass genau hingeschaut wird und sich immer wieder klar machen, dass Frauen Gefahr laufen, in diese Self-Silencing-Falle zu tappen. Es ist statistisch erwiesen, dass Frauen viel später mit Herzinfarkt-Symptomen in die Notaufnahme gehen. Nicht nur, weil sie sie vielleicht nicht deuten können, sondern auch, weil sie zuerst an ihre Pflichten zu Hause denken. Es braucht ein Umdenken an dieser Stelle, das Bewusstsein: Mein Schmerz ist es wert, gehört und gesehen zu werden.

Was würden Sie empfehlen, um im Sprechzimmer ernst genommen zu werden?
Bloß nicht zu gesund aussehen! Sonst denkt die andere Seite, so schlimm kann es ja nicht sein. Gemäß dem aktuellen Forschungsstand sollte man nicht zu sportlich sein, weil fitten Menschen angeblich nichts fehlt. Andererseits schiebt man bei Übergewichtigen alles auf diesen Aspekt, und schwarzen Frauen wird unterstellt, dass sie Schmerzmittelrezepte abgreifen wollen. Das waren natürlich keine Ratschläge, eher eine Demonstration des ganzen Irrsinns.

Okay, jetzt aber bitte wenigstens einen Tipp!
Wichtig ist vor allem die Art des Auftretens. Also als selbstbewusste Patientin reinzugehen mit der Haltung: „Ich gehe hier nicht raus, bevor ich nicht irgendeine Art von Lösung habe.“ Das ist vielleicht nicht unbedingt die Diagnose, aber zumindest eine Facharztüberweisung oder der Satz: „Ich kann Ihnen nicht helfen.“ Vor allen Dingen sollte man sich nicht mit der Aussage abwimmeln lassen, Beschwerden seien psychosomatisch. Frauen lassen sich oft klein machen und gehen unter Umständen mit dem Rezept für ein Medikament raus, das das Problem nicht löst, sondern sie im schlimmsten Fall in die Schmerzmittelabhängigkeit treibt.

In Ihrem Buch trifft man auf einige Fallbeispiele von Frauen, die erst ernst genommen wurden, als sie einen Mann in die Arztpraxis mitbrachten. 
Wenn es um Erkrankungen geht, die die Sexualität beeinträchtigen, liegt die Sache klar auf der Hand: Sobald die Lust oder Befriedigung eines Mannes in Gefahr ist, wird sehr viel genauer hingeschaut.

Zum weiblichen Schmerz gehört auch die Unterwerfung unter die vom männlichen Blick geprägten Schönheitsnormen: Um dünn, straff und sexy zu sein, nehmen Frauen eine Menge Leid und Gefahren in Kauf. An einer Stelle fragen Sie:Wo ist der Unterschied zwischen Lippenstift und Lippenaufspritzen?“ Sehen Sie wirklich keinen?
Das ist natürlich überspitzt. Sicherlich ist es weniger radikal, roten Lippenstift aufzutragen, als sich beispielsweise Hyaluronsäure spritzen zu lassen. Dennoch finde ich diese Unterscheidungen etwas scheinheilig. Natürlich würden viele Frauen sich nicht unters Messer legen, wie es so schön heißt, aber am Ende landen wir immer beim Patriarchat, und das diktiert, wie Frauen sein sollen. So gut wie alles, was wir an Körperarbeit leisten, tun wir für den männlichen Blick.

Es gibt auch Frauen, die das eine Art als Selbstermächtigung begreifen. 
Ohne die ursprünglichen Gründe von der Hand zu weisen: Warum nicht das System zu den eigenen Gunsten nutzen? Sophie Passmann zum Beispiel hat in „Pick me girls“ sehr ehrlich dargelegt, wie ihr Alltag durch die Optimierung ihres Äußeren sehr viel angenehmer geworden sei. Man behandele sie zuvorkommender, Männer zollten ihr mehr Respekt. Es ist eine mögliche Strategie, um im Patriarchat zu überleben.

Sie schreiben, dass Sie nicht mehr die Frau werden, die ihren Körper bedingungslos akzeptiert. Betrauern Sie diesen Umstand?
Es ist wichtig für mich, das anzuerkennen und mir nichts vorzumachen. Ich bin ein sehr disziplinierter Mensch, und natürlich betrifft das auch meinen Körper. Meine Essstörung etwa werde ich wohl nie wieder ganz los. Umso wichtiger ist es mir, darüber zu sprechen und zu schreiben. Ich wünsche mir, dass nachfolgende Generationen mit anderen Vorstellungen aufwachsen, wie ein weiblicher Körper sein darf.

Am Ende Ihres Buches stellen Sie die Frage, wie eine Welt aussehen kann, in der weiblicher Schmerz ernst genommen wird. Wie sieht ein Blick auf diese Welt aus? 
Frauen dürfen aufgrund ihres Geschlechts keine Benachteiligungen erfahren. Und dann ganz konkret: Es muss mehr weibliche Chefärztinnen geben. Tatsächlich studieren inzwischen mehr Frauen Medizin als Männer, aber je weiter man in der Hierarchie nach oben geht, desto mehr dünnt es sich aus. Der Hysteriebegriff muss endgültig verschwinden, aber auch alle Diagnosen, die an seinen Platz getreten sind, von funktionalen Beschwerden bis hin zu „Bodily Distress Disorder“. Die leichtfertige Verschreibungspraxis von Schmerzmitteln muss ein Ende haben, auch, dass Mädchen im Glauben aufwachsen, es sei normal, Periodenschmerzen zu betäuben. Und dann muss es Platz geben für weibliche Wut, für weiblichen Schmerz.

Eva Biringer: „Unversehrt. Frauen und Schmerz“, Verlag Harper Collins, 256 S., 20,00 Euro

Wo nimmt man das her, wenn man daran gewöhnt ist, Wut immer zu unterdrücken?
Aus dem Kollektiv! In den Siebzigern gab es die sogenannte Frauengesundheitsbewegung, da haben sich Frauen getroffen und sich gemeinsam ihre Geschlechtsteile angesehen, um ihren eigenen Körper kennenzulernen aus einer Perspektive, die damals nur Gynäkologen vorbehalten war. Zugleich haben sie sich solidarisiert und sind gemeinsam für ihre Rechte eingetreten. So etwas bräuchten wir auch heute. Ein guter Anfang sind Hashtags, zum Beispiel #FrauenBeimArzt, unter denen Frauen diskriminierende Erfahrungen öffentlich machen.

Wut kann eine unheimliche Triebfeder sein. 
Ohne sie ändert sich nichts. Übrigens werden Frauen schon wütend, aber meistens dann, wenn es nicht um sie selbst geht. Frauen engagieren sich mehrheitlich für Umweltpolitik, bessere Bildung oder wenn es um Kinder geht – dabei müssen sie genauso für ihre eigenen Rechte eintreten. Gleichzeitig sind doppelt so viele Frauen wie Männer von nächtlichem Bruxismus betroffen, der oft auf unbewältigten Stress hindeutet. Statt also mit den Zähnen zu knirschen und sich das Gebiss kaputt zu machen, sollte man sich darin üben, den Mund im Alltag aufzumachen und der eigenen Wut Ausdruck zu verleihen.