Missbrauchsprozess: 684 Tage unschuldig in Haft: Eltern freigesprochen
Wegen schwerer Straftaten an der Tochter wurde ein Paar aus Niedersachsen zu langer Haft verurteilt. Der Bundesgerichtshof verlangte einen neuen Prozess. Dieser endet nun mit einer großen Wende.

Wegen schwerer Straftaten an der Tochter wurde ein Paar aus Niedersachsen zu langer Haft verurteilt. Der Bundesgerichtshof verlangte einen neuen Prozess. Dieser endet nun mit einer großen Wende.

Pure Erleichterung in den Gesichtern der Angeklagten: In einem neu aufgerollten Missbrauchsprozess ist ein Ehepaar aus Niedersachsen vom Vorwurf schwerer Straftaten an der Tochter freigesprochen worden. „Die Kammer ist überzeugt davon, dass die 19 angeklagten Taten nicht stattgefunden haben“, sagte die Richterin im Landgericht Braunschweig. Es handele sich um „erwiesene Unschuld“. 

Die Richterin sprach betont von einem „Freispruch erster Klasse“. Das ist aber erst das Ergebnis eines zweiten, neu aufgerollten Prozesses. Nach einem ersten Verfahren vor einer anderen Strafkammer in Braunschweig hatte die 54-jährige Mutter im Juni 2023 eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13,5 Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung erhalten, ihr 58 Jahre alter Partner war zu neun Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.

Haftbefehle schon vor Prozessbeginn aufgehoben 

Der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil auf Revision der Angeklagten auf, weil unter anderem die Beweiswürdigung aus Sicht der Bundesrichter lückenhaft war. Zudem sollte die Aussagefähigkeit des mutmaßlichen Opfers besser geklärt werden. Die neue Strafkammer hob schon vor Prozessbeginn die Haftbefehle auf. Das Paar sei zwar weiterhin verdächtig, es gebe aber keinen dringenden Tatverdacht mehr, hieß es dafür im Juni zur Begründung. 

Die beiden Angeklagten hatten bis dahin etwa zwei Jahre in Untersuchungshaft gesessen. 684 Tage unschuldig in Haft, dafür müssen sie nun entschädigt werden, wie die Richterin sagte. Eine Revision ist noch möglich. Die Vertreter der Staatsanwaltschaft kündigten aber direkt an, auf Rechtsmittel zu verzichten. Sie hatten in den nicht-öffentlichen Plädoyers selbst einen Freispruch beantragt. Die Verteidiger hatten sich dem angeschlossen. 

Immer größere Zweifel an Glaubwürdigkeit der Tochter

Zum Prozessauftakt im August war dem Paar aus Bad Harzburg noch vorgeworfen worden, ihre erwachsene Tochter mehrmals vergewaltigt, misshandelt und verletzt zu haben. Allerdings kamen vor und während des zweiten Prozesses immer größere Zweifel auf. Über die Schilderungen der jungen Frau hatte ein Gutachter abschließend von einem „eher geringen Wahrscheinlichkeitsgrad für einen realitätsbasierten Hintergrund“ gesprochen.

Im Verfahren bezweifelten mehrere Ermittler die Glaubwürdigkeit der 26-jährigen Tochter. Eine frühere Freundin soll jüngst bei der Polizei ausgesagt und so das Bild einer großen Inszenierung bekräftigt haben. Mitentscheidend für den Freispruch seien zudem akribische Nachermittlungen gewesen, sagte die Richterin. Entdeckte Chat-Verläufe, gestellte Videos und immer neue Anschuldigungen des vermeintlichen Opfers auch gegen völlig unbeteiligte Personen brachten die Wende. 

Freispruch wirft neue Fragen auf 

Mit dem Freispruch steht aber auch ein Fragezeichen hinter einem weiteren früheren Urteil. Das Landgericht hatte im Jahr 2022 gegen eine frühere Partnerin der Tochter wegen schwerer Misshandlungen mehr als sechs Jahre Gefängnis verhängt. Die damals 28-jährige Angeklagte hatte unter anderem einen sexuellen Übergriff in besonders schwerem Fall, gefährliche Körperverletzung und Freiheitsberaubung sowie einen versuchten Totschlag auf ihre Lebensgefährtin eingeräumt. 

Dieses damalige Geständnis dürfte nach Überzeugung der Richterin auch dazu geführt haben, dass dem vermeintlichen Opfer an vielen Stellen geglaubt wurde. Die nun freigesprochenen Eltern waren erst nach diesem Urteil überhaupt ins Visier der Justiz geraten. Es dürfte dafür eine Überprüfung geben, kündigte die Richterin an. Die Frage, warum mögliche Widersprüche im ersten Prozess gegen die Eltern nicht entscheidend aufgegriffen wurden, lasse sich rückblickend nur schwer beantworten.

Viele traumatisierte Menschen 

In der zweiten Verhandlung kam die Kammer zu der Überzeugung: „Alle Vorwürfe gegen alle Personen sind falsch.“ Natürlich dränge sich die Frage auf, warum eine Person so etwas macht, sagte die Richterin. Aufmerksamkeit, Geltungsbedürfnis oder doch Scheinerinnerungen? Antworten darauf könne aber nur ein neues Verfahren geben, weitere Klärung sei dringend angebracht. Das gelte aber nicht nur für die beiden früheren Freundinnen des vermeintlichen Opfers. Das Geschehene habe viele traumatisierte Menschen hinterlassen.