Grünen-Spitze: Es treten immer die Gleichen (nicht) zurück
Bei den Grünen brodelt es und wer übernimmt Verantwortung? Die Frau und der Mann mit migrantischen Wurzeln. Es ist immer das Gleiche. Wir müssen uns endlich aufregen!

Bei den Grünen brodelt es und wer übernimmt Verantwortung? Die Frau und der Mann mit migrantischen Wurzeln. Es ist immer das Gleiche. Wir müssen uns endlich aufregen!

War ja klar. Das war das Einzige, was ich dachte als ich vorm Rücktritt des Grünen-Vorstands, Ricarda Lang und Omid Nouripour hörte. Sowas von klar. Wer tritt mal wieder zurück und übernimmt politische Verantwortung? Eine Frau und ein Mann mit migrantischen Wurzeln. Und damit zwei gesellschaftliche Gruppen, die sowieso schon massiv unterrepräsentiert sind in der deutschen Politik.

Wer tritt mal wieder nicht zurück, übernimmt keine Verantwortung und ist gleichzeitig – oh Wunder – auf dem politischen Parkett komplett überrepräsentiert? Friedrich, Markus, Christian, Olaf, Rolf, Kevin, Lars, Jens, Robert – weiße, bio-deutsche cis-Männer.CIS

Und ich will hier überhaupt nicht inhaltlich werden, wer was falsch gemacht hat, welche Ziele sich der Grünen-Vorstand gesetzt, nicht erfüllt und welche Ideale sie bei ihren Wählerinnen und Wählern verraten haben. 

Ich will darauf hinaus, dass es unsere Politik auch in einem Jahr 2024 offenbar nicht hinbekommt, sich auch nur ansatzweise divers aufzustellen. Und wenn sie es dann doch schafft, sind die marginalisierten Menschen sofort diejenigen, die als allererstes über die Klinge springen müssen. Und dieses Muster weiderholt sich immer und immer wieder. 

Frauen, die zurücktreten, Männer, die bleiben

Die letzten paar Jahre sind geradezu ein Paradebeispiel dafür: 2022 – wer tritt als erste Ministerin im Kabinett Scholz zurück? Anne Spiegel – eine Frau. Immerhin konnte die Stelle mit einer anderen Frau nachbesetzt werden – ging ja auch „nur“ ums Familienministerium. 2023 – es rumpelt im Verteidigungsministerium, wer tritt als Verteidigungsministerin zurück? Christine Lambrecht – eine Frau. Hier musste Scholz dann doch in den unwoken Apfel beißen und einen Mann für die Verteidigung benennen. Armee und Frauen gehen wohl leider doch nicht so gut zusammen. ZUR PERSON

2024 – es rumpelt in Berlin, wer gibt seinen Rücktritt als Berlins Bürgermeisterin bekannt? Franziska Giffey – eine Frau. Annegret Kramp-Karrenbauer 2020 als CDU-Chefin – zurückgetreten. Andrea Nahles 2019 als SPD-Chefin zurückgetreten. Ich könnte ewig so weitermachen.

Viel spannender ist aber, wer eigentlich in all diesen Zeiten nicht zurückgetreten ist, nicht mal ein bisschen: Skandal Maskendeal – wer ist nicht zurückgetreten? Jens Spahn. Skandal Lachanfall während Überschwemmung – wer ist nicht zurückgetreten? Armin Laschet. Skandal Klimaziele komplett verfehlt – wer ist nicht zurückgetreten? Volker Wissing. Skandal Flugblattaffäre – wer ist nicht zurückgetreten? Hubert Aiwanger. Skandal „Ich erinnere mich nicht an dubiose Bankgeschäfte“ – wer ist nicht zurückgetreten? Olaf Scholz. Und unser aller Lieblingsskandalnudel Mr. Pkw-Maut himself  – wer ist nicht zurückgetreten? Andreas Scheuer. Christian „Wir haben in Brandenburg 0,8 Prozent geholt, ich bleibe trotzdem im Amt“ Lindner und Friedrich „kleine Paschas“ Merz muss ich wohl nicht extra erwähnen. Mit anderen Worten: Wer klebt einfach zu gern am einflussreichen politischen Stuhl allen Skandalen zum Trotz? Der weiße, deutsche Cis-Mann. Ricarda Lang Meme Queen 15:05

Marginalisierte Menschen sind oft kompetenter

Und nein, das ist nicht mal wieder ein Zeichen dafür, dass Frauen oder Menschen mit migrantischen Wurzeln vielleicht einfach nicht so widerstandsfähig sind, oder nicht kompetent genug oder gerade bei Frauen „zu schwach“ für die politische Bühne oder irgendein anderer rassistisch-sexistischer Bullshit. Genau das Gegenteil ist nämlich der Fall: marginalisierte Menschen, die es in die Politik schaffen, sind oft sehr viel qualifizierter und kompetenter als viele ihrer meist männlichen, meist weißen politischen Pendants. 

Der Grund: Frauen und insbesondere migrantische Frauen – Studien belegen das – müssen im Berufskontext viel mehr Überstunden schieben und sich viel mehr beweisen als gleichqualifizierte Männer, um für eine Führungsrolle überhaupt vorgeschlagen zu werden. Heißt – wenn wir uns gerade Frauen anschauen – sind die wenigen von ihnen, die es nach oben in die Politik schaffen, statistisch gesehen allein dadurch schon kompetenter und besser vorbereitet.

Und auch ein dickes Fell haben Menschen aus marginalisierten Gruppen meistens sehr wohl, da sie schon früh durch eine wesentlich härtere Schule gehen müssen: Auch hier zeigen Studien, dass Frauen oder People of Color in der Politik wesentlich mehr Hass und Hetze erleiden müssen, in Kommentarspalten, auf offener Straße, auf Social Media. Von Vergewaltigungsphantasien und Morddrohungen per DM mal ganz abgesehen.Interview Alex Zykunov 08:30

Wir bevorzugen ein bestimmtes Geschlecht

Wegen all dieser Dinge und wegen der Tatsache, dass aufgrund all dieser Widrigkeiten es im Bundestag aktuell trotzdem nur 36 Prozent Frauen gibt und nur elf Prozent Menschen mit migrantischen Wurzeln. Und dass unter allen Bürgermeistern bundesweit momentan sogar 90 Prozent (!) Männer sind und nur zehn Prozent Frauen – vor diesem Hintergrund grenzt es fast schon an Arbeitsverweigerung, wenn es unser Politiksystem nicht schafft, Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte ihren Anteilen entsprechend in den Parlamenten abzubilden und – ganz wichtig – diese auch dort zu halten!

Und wehe jemand fängt jetzt an, zum hunderttausendsten Mal zu kommentieren, dass es ja wohl nicht auf das Geschlecht oder die Herkunft ankäme, sondern auf die Qualität; und wir ja wohl nicht unser aller Wohl in politische Hände nur aufgrund deren Geschlecht legen sollten. Ja natürlich sollten wir das nicht! Wir tun aber genau das! Und zwar schon seit immer! 

Wir bevorzugen doch schon die ganze Zeit ein bestimmtes Geschlecht in der Politik; wir wählen doch schon vorzugsweise immer nur ein bestimmtes Geschlecht; wir lassen doch schon einem bestimmten Geschlecht in der Politik viel mehr durchgehen und setzen da viel geringere Messlatten an: dem weißen, deutschen Cis-Mann! Anpalagan Grüne 12.19

Wenn wir es also irgendwann in einer fernen Galaxie weit, weit weg endlich mal schaffen, politische Vertreterinnen und Vertreter aufzustellen, zu wählen und zu halten, die wirklich alle Gruppen unsere Gesellschaft abbilden, verspreche ich hoch und heilig, hier nie wieder nach dem Geschlecht zu gehen und nur auf die Qualität zu schauen. 

So lange aber die Schieflage der Repräsentanz so eklatant ist wie sie in Deutschland ist; und so lange wir immer noch so eine einseitige Bevorzugung einer einzigen Geschlechtergruppe haben, müssen wir uns kollektiv darüber aufregen. Aufregen, dass es wieder nicht sie waren, die zurückgetreten sind, sondern wieder mal die anderen.